Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 87
Text
den Verstand verlieren zu müssen. Als die Zeit der neuerlichen Expe-
dition herankam, rüstete sich Gerhard dafür wie gewöhnlich. Am
Morgen, an dem das Schiff in See stechen sollte, erschien plötzlich
Carl in unserem Hause. Seine ersten Worte waren: »Die Zeit ist ge-
kommen, Bruder, lass uns hinaus.« Sie wechselten einen Blick, Gerhard
erblasste, doch er schwieg. Dann wendete sich Carl an mich: »Ich
sehe, dass du mich nie geliebt hast, Maria.« Damit verschwand er.
Das waren seine einzigen und seine letzten Worte an mich. Ich wollte
etwas sagen, der Boden wankte unter meinen Füssen, mir wurde dunkel
vor den Augen, ich brach ohnmächtig zusammen. Als ich das Be-
wusstsein wieder erlangte, da war Carl schon weit fort. Mein Kopf
ruhte auf Gerhards Knien. Mein armer Bruder, er hat mich sehr
geliebt. Er hob mich zu sich empor, drückte seine Lippen auf meine
Stirn und flüsterte: »Meine geliebte, meine arme Maria « Er brachte
nichts weiter hervor, die Stimme versagte ihm, und zwei heisse Thränen
fielen aus seinen Augen auf mein Antlitz nieder. (Sie unterbricht sich
und weint heftig.)
Der Priester. Armes Kind
Maria. Dann schob er mich von sich und ging hinaus. Das
Boot, mit dem sie ans Schiff heranrudern sollten, war bereit. Ich hatte
wie gewöhnlich Alles selbst vorbereitet. Von der Thüre aus lächelte
er noch traurig, warf mir eine Kusshand zu und sagte: »Leb’ wohl!«
Kraftlos sank ich auf die Bank nieder. Als ich mich aufraffte und zum
Hause hinausstürzte, da fuhren sie Beide schon im Boote dahin. Gerhard
schwenkte noch einmal seine Mütze. Carl sass am Steuer, das Haupt
auf die Brust gesenkt, und sah ins Wasser. So entschwanden sie
Der Priester. Wenn sie, was Gott verhüten möge, verunglückt
sind, dann lass uns für ihre armen Seelen beten. (Er murmelt halblaut
vor sich hin, und Andreas spricht ihm die Worte nach.) Herr, schenke ihnen
die ewige Ruhe, und das ewige Licht möge ihnen leuchten in Ewigkeit,
Amen! (Schweigen. Es wird dunkler.)
Andreas. Wolken bedecken den Himmel, der Wind erhebt sich.
Maria. Und denken zu müssen, dass sie dort auf dem Eise des
Oceans todt liegen. Sie konnten nicht überwinden ich weiss es
sie haben Gott um den Tod gebeten. Mit dem Bewusstsein meiner
Schande und mit dem Schmerz im eigenen Herzen konnten sie nicht
leben. Sie haben mich so geliebt Gerhart hat mir verziehen, als
habe er gefühlt, dass er es nie mehr würde thun können, wenn er es
nicht in jener Stunde thäte Aber Carl, Carl Oheim, wenn er
dahingegangen ist mit dem Dorn im Herzen, dann wird er kommen,
sich an mir zu rächen. Ich habe ihm ja Treue geschworen! Ich habe
geschworen bei den Gebeinen unserer Eltern, beim Blute des Heilands,
bei meinem ewigen Seelenheil
Der Priester. Welch schrecklicher Schwur.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 87, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0087.html)