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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 119

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NOTIZEN. 119

Nicht Alle kennen die Bilder der
alten deutschen Meister, die in
den versteckten, rückwärtsgelegenen
Räumen unserer Museen ihren
Platz gefunden haben. Wer sie
aber kennt und treu und fleissig
wiederkommt, der lernt sie lieben,
nicht Alles auf einmal, das nistet
sich nicht so rasch in Herz und
Nerven ein, aber langsam, eine
Hand, einen Blick, ein Lächeln,
eine Geberde, und was uns erst
steif und trocken und hölzern war,
das bekommt Wahrheit und Leben,
Licht und Liebreiz. Ich liebe die
Kunst unserer Väter mit demuths-
voller Rührung, in der sich ein
Körnchen Neid birgt, der Neid
des Reichen, der erst seine müh-
sam erworbenen Schätze wegwerfen
muss, um dasselbe Glück zu ge-
niessen, das dem Armen als Him-
melsbrot in den Schoss fällt. Und
eben diese Empfindung beschlich
mich, als ich »Die Kajakmänner«
las, eine Reihe Erzählungen aus
der Feder grönländischer Seehunds-
fänger, die Signe Rink gesammelt
und dem deutschen Lesepublicum
als kraftvolle Brühe für die ver-
dorbenen Mägen vorgesetzt hat
»Die Kajakmänner« werden beiläufig
die gleiche Empfindung wachrufen
wie die derbe Bauernspeise bei den
verwöhnten Städtern.Viel Entsetzen,
ein bischen Neugier, ein klein
wenig Neid und gar kein Ver-
ständniss. Der Schlussrefrain wird
sein: Ach, das ist überhaupt kein
Buch! — — — Nein, »Die Kajak-
männer« ist kein Buch, es ist die
Offenbarung einer Volksseele. —
Es ist ganz einfach die Kunde,
dass es hoch oben im Norden
unter Schnee und Eis Menschen
gibt, die ihr ureigenstes Gepräge
durch den Wandel aller Zeiten

festhalten und ihre Leiden und
Freuden, ihre Schmerzen und Hoff-
nungen, ihren Ehrgeiz, ihre Ver-
zweiflung haben wie wir Nein,
das ist nicht das Beste, was über
das Buch gesagt werden kann
Nicht wie wir! So sind wir nicht.
So waren wir vielleicht einmal,
als wir die Segnungen der Cultur
nicht kannten. So gut und ehrlich,
so grausam und wetterfest, so
kindlich fromm und blöde aber-
gläubisch, so brav und stark und
im innersten Kerne ungekünstelt,
so waren wir vielleicht einmal, so
sind sie jetzt und werden es hof-
fentlich bleiben, die grönländischen
Seehundsfänger, die Kajakmänner.

Was uns höchster Edelmuth,
Grossherzigkeit bedeutet, ist ihm
die einfältige Erkenntniss einer
Nothwendigkeit. Z. B. wenn einer
sich in den Tod begibt mit den
nüchternen Worten: »Bleibe du
davon und lass mich, du bist viel
mehr wert als ich«.— Der Grön-
länder ist keine empfindsame Natur,
er liebt es nicht, von sich und
seinen Gefühlen zu sprechen. Er
geht gern mit einem Scherz oder
irgend einem kalten unpoetischen
Wort darüber hinweg. Meldet sich
einmal Empfindung, dann wirkt
sie in schmucklosem Ausdruck so
stark und liebreich, dass ihn Sätze
tönender Worte nicht überbieten
könnten Z. B. wenn der Bären-
jäger von seiner Erinnerung über-
mannt ausruft: »Ach, ich leugne
nicht, dass mir damals um meiner
kleinen Maria willen elend zu
Muthe war. Ich konnte meinem
Schöpfer und Erhalter nicht genug
danken, wenn ich sie sehen konnte,
wie sie umherging.« Spricht der
Kajakmann von sich und seinen
ureigensten Gefühlen, so hat er

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 3, S. 119, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-03_n0119.html)