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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 164

Text

104 DRACHMANN.

gewendet. Es kam mir vor, als ob sein gekräuseltes Haar in ganz be-
unruhigender Weise wüchse. Ja, sicher, ich musste phantasiren.

»Du hast bereits Fieber!« sagte ich zu mir selbst. »Du bist ein
gebrandmarkter Mann. Was wolltest du auch hier?«

Es ist immer dieselbe Frage, die man sich stellt, wenn der
Schaden einmal geschehen ist. Man sollte eigentlich zur Abwechslung
einmal anfangen, zu fragen, ehe es geschehen ist.

Aber weiter, weiter!

Ich hatte gelegen und halb geschlummert. Wie lange? Eine
Stunde, einen ganzen Tag; es war unmöglich zu bestimmen. Ich öffnete
die Augen: völlige Dunkelheit! Ich fühlte mich ausserordentlich matt
und müde. Ich schloss die Augen wieder; aber jetzt hörte ich Stimmen.
Wieder die Augen auf, im Uebrigen aber unbeweglich im Bette. Es
schimmerte irgendwo ein Lichtstreifen. Aha, die Thüre nach dem
Arbeitszimmer war nur angelehnt. Jetzt ging sie langsam auf, wie
Thüren in alten, windschiefen Häusern so gerne thun. Ich konnte
hineinsehen. Da sass Monsieur Heinrich leibhaftig, vollständig an-
gekleidet, mit Kragen und Shlips und allem möglichen Anderen an-
gethan, auf dem Sofa und hatte ein Licht vor sich auf dem Tische
brennen. Ihm gegenüber, mit dem Rücken nach mir zu, stand eine
weibliche Gestalt, ein brennendes Licht in der Hand. Ich sah eine
Menge lichter Nackenhaare. Da knarrte die verrätherische Thüre hinter
ihr. Sie wandte sich erschreckt um, nickte nach dem Sofa zu und
schritt rasch über die Diele, ohne sich von der Hand, die sich ihr
vom Sofa aus entgegenstreckte, aufhalten zu lassen. Ich hörte, wie eine
Thüre geöffnet und wieder geschlossen wurde: es war auf jeden Fall
die hinaus auf den Gang.

Mein Freund blieb einen Augenblick allein sitzen und lauschte.
Dann erhob er sich und löschte das Licht aus. Unmittelbar darauf
hörte ich Tritte in unserer Schlafkammer und das Geräusch eines, der
sich schnell umkleidet und in der Hastigkeit seine Weste mit Uhr und
Kette gegen den Bettpfosten schlagen lässt.

Es verging einige Zeit. Endlich rief ich:

»Heinrich! Heinrich! Bist du in deinem Bette?«

Tief unten herauf aus den Regionen des Bettes und des Schlafes
klang ein langsames: »Wa — was? Wer ist da?«

Mir wurde ganz wunderlich zu Muthe. Die Stimme und die Be-
tonung waren allzu natürlich. Das war ein Mensch, dem es durchaus
nicht angenehm ist, aus seinen Träumen geweckt zu werden.

»Heinrich, ich glaube, ich habe Fieber!«

»So trink’ Wasser!« klang es kurz zurück; und darauf folgte der
unverkennbare Laut von einem, der sich auf die andere Seite umdreht
und weiter schläft.

Sollte ich wirklich phantasiren? Undenkbar war es ja nicht. Ich
fühlte nach meinem Pulse. Es kam mir vor, als ob er sehr schnell
ginge. Wenn man im Dunkeln liegt und glaubt, man habe Fieber,
so geht der Puls immer schnell.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 164, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0164.html)