Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 165
Künstlerherzen (Drachmann, Holger)
Text
Ich entschied mich dahin, dass ich Fieber hätte. Ich lag und
lauschte ein wenig auf den strömenden Regen draussen — es regnete
selbstverständlich immer noch — dann versuchte ich, mich des Ge-
sichtes da drinnen zu erinnern, als es sich mir zugewandt hatte
Unsinn, es war ja gar keines dagewesen. Das war ja ein Traum, eine
Hallucination. Ach, wir sind doch nervöse Menschen in unseren Tagen!
Nur das Klatschen des Regens gegen die Fensterscheiben war die
reinste Wirklichkeit. Darüber war ich nicht im Geringsten im Zweifel.
Es trommelte mich in Schlaf mit seinem Generalmarsch. Ferner und
ferner, mehr und mehr gedämpft klangen die Wirbel. Dann auf einmal wurden
sie wieder stärker; es herrschte Aufruhr draussen, und reitende Patrouillen
sprengten durch die Strassen. Der dritte und der vierte schleswigsche
Krieg waren auf einmal ausgebrochen, und zugleich waren auch sämmt-
liche Gefangenen aus Vridslöselille1) ausgebrochen. Der Inspector
draussen versuchte sie zur Vernunft zu bringen, aber vergebens. Sie
dankten ihm für seine gute Absicht und baten ihn nur, die Zellen als
leerstehend in der Zeitung zu annonciren. Es wäre doch eine Schande,
stellten sie ihm vor, wenn ein so grosses Etablissement nicht einmal
den Miethzins abwerfen wollte. Er liess deshalb um augenblickliche
Hilfe nach der Stadt telegraphiren. Ein Panzerschiff auf Walzen wurde
abgesandt, da die Stadt selbst von Truppen entblösst war. Durch irgend
einen Zufall war ich an Bord desselben gekommen. Alle Matrosen
standen längs der Batterie aufmarschirt, und es wurde commandirt:
»Spuckt in die Hände!« Sie spuckten alle tadellos und schlugen sich
unter die Arme; aber das Alles half nichts. Dann wurde unmittelbar
vor Valby2) Anker geworfen. Inzwischen war das Project der Ver-
tiefung des Kallebodstrandes3) verwirklicht worden. Die ausgebaggerte
Tiefe reichte bis zu uns heran, und wir kamen ins Wasser. Wir segelten
weit, sehr weit hinaus. Schliesslich wurde mir die Geschichte lang-
weilig, und ich sprang über Bord. Ich lag und plätscherte im Wasser
unten — und ich erwachte über den Laut, den ich selbst hervorbrachte.
Es war Tag; höchstwahrscheinlich aber um die Morgendämmerung,
dachte ich bei mir selbst, denn die Helligkeit draussen war eben keine
grosse. Ich blickte nach dem Fenster. Es regnete. Ich sah nach meiner Uhr.
Es war halb neun, Ich blickte hinüber nach dem anderen Bette. Es war leer.
»Na!« sagte ich zu mir selbst. »Du verstehst dich entschieden aufs
Schlafen und Träumen. Das war ja ein guter Anfang einer Badereise !«
Ich sprang auf und in meine Kleider, die man halbtrocken herein-
gebracht hatte. Ich machte Toilette und sah mich um. Heinrichs Reise-
tasche lag, auf seine gewöhnliche rücksichtslose Weise ausgekramt, auf
dem Boden. Er hatte seine Malerrequisiten mit sich genommen. Ich
sah mich um nach dem strömenden Regen draussen und fragte mich
1) Der Name eines bekannten dänischen Zuchthauses für männliche Gefangene.
2) Der Name eines Dörfchens südwestlich von Kopenhagen, eine Viertel-
stunde von der Stadt entfernt.
3) Der südwestliche Theil des schmalen Sundes zwischen Kopenhagen und
dem Inselchen Amager.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 165, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0165.html)