Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 166
Künstlerherzen (Drachmann, Holger)
Text
selbst: »Wo mag er wohl in diesem Wetter Studien machen wollen?«
Ich musste plötzlich an einen seiner schlechten Spässe denken. Als
wir bei einer anderen Gelegenheit auch einmal mit einander aufs Land
gegangen waren und ebenfalls strömendes Regenwetter bekommen
hatten, stiess er seine grosse Malercassette kaltblütig in einen Winkel,
steckte seinen Wasserfarbenkasten in die Tasche, nahm einen Schirm
und ging zum Zimmer hinaus. »Wo willst du denn hin?« rief ich. »Es
regnet ja!« »Ich male in Wasserfarbe!« war seine Antwort.
Ich vollendete meine Toilette. Dann dachte ich an die Erscheinung
von gestern Abend. Das Nackenhaar, den Besuch dort drinnen.
»Ach was! Das ist eine Einbildung gewesen. Heinrich, der
trockene, unzugängliche Geselle! Ich habe wirklich phantasirt.«
Nichtsdestoweniger begann ich — nachdem ich geklingelt und
der Knecht von gestern hereingekommen war und ich mein Frühstück
bestellt hatte — den Menschen auszufragen.
»Sagt mir einmal, mein Freund, habt Ihr irgend welche Jungfern
hier im Gasthofe?«
Er schielte nach mir herüber, indem er zugleich eine sehr fromme
Miene aufsteckte.
Ich ärgerte mich; aber ich hatte einmal den Anfang gemacht.
»Nee!« sagte er. »Aufwartungs-Jungfern haben wir nicht, ausser
denen, die in der Küche sind. Aber die warten nicht auf.«
»Nicht? So! — Hat der Wirth Töchter?«
»Ja, es sind ihrer Dreie da. Aber, wissen Sie, Zweie davon sind
nicht zu Hause; die sind irgendwo als Lehrerinnen!«
»Aha. Und die Dritte?«
»Ja, die ist zu Hause; aber die lernt von sich selber Musik.«
»So! — Aber sie wohnt also hier?«
»Ja, wenn sie nicht gerade bei Controleurs wohnt. Denn denen
ihre Tochter und unsere hier, die stecken sie immer bei einander und
sind ganz in einander vernarrt«
»Es ist wohl ein hübsches Mädchen?« (Hier zog ich mein Porte-
monnaie aus der Tasche.)
»I nu’, sie ist nicht gerade gar so hässlich; und einen Liebsten
hat sie doch auch!«
Ich gab ihm ein Einkronenstück, indem ich bemerkte, dass ich
Trinkgelder immer im Voraus zu geben pflegte, um gut bedient zu
werden. Und dann fuhr ich fort, überzeugt, meinem Freunde jetzt auf
der Spur zu sein:
»So — oh? Na, das ist wohl bloss etwas, was man so sagt?«
»Nein, es ist etwas ganz Richtiges. Es ist dem Forstrathe sein
Sohn da oben über dem Dorfe.«
»Was?«
»Jawohl!« — Hier nickte er mit einem Grinsen und zeigte durch
den Regen hinaus nach der Stelle, wo die bewaldeten Hügel liegen sollten.
»Was ist er denn?« fragte ich ziemlich in Verwirrung.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 166, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0166.html)