Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 168
Künstlerherzen (Drachmann, Holger)
Text
»Sie ist dreissig Jahre alt, hat drei Kinder und ist brustkrank.
Das ist möglicherweise der Grund, weshalb der Doctor ihr Bild haben
will, während es noch Zeit ist. Ihr Aussehen ist kein blühendes.«
»Wollen wir nun essen?« fragte ich und erhob mich.
»Du kannst ja nach dem Knechte schellen!«
»Warum nicht nach der Aufwarte-Jungfer?«
»Es gibt keine!«
»Ja, aber gestern kam doch ein Mädchen!«
»Sie gehört zur Küche!«
»Du scheinst ja gut localisirt zu sein.«
»Ich habe dir ja gesagt, dass ich schon früher hier logirt habe.
Klingele also!«
Wir verzehrten unser Mittagbrot so ziemlich im Schweigen. Die
Kost war ärmlich; aber als ich Ausstellungen daran machen wollte,
wurde Heinrich sehr ungnädig.
»Wir sind nicht hieher gekommen, um gute Kost zu essen und
feine Weine zu trinken, sondern um «
»Die Bäder zu brauchen!« setzte ich fort. »Dazu sind wirklich
die besten Aussichten vorhanden!«
Er sägte mit seinem Messer in dem zähen Fleische herum und schwieg.
Dann erhoben wir uns. Ich wünschte ihm gesegnete Mahlzeit.
Ich wusste, dass er sich darüber immer ärgerte.
Er zuckte mit den Schultern. Wir zündeten unsere Cigarren an,
tranken eine Tasse Kaffee und unterhielten uns — mit ziemlich grossen
Pausen — von ganz gleichgiltigen Dingen.
»Jetzt glaube ich endlich, es klärt sich etwas auf!« sagte er.
Mir schien es auch so. Er spannte ein neues Stück Leinwand in seine
Cassette, nahm seinen Hut und Malerstuhl und verabschiedete sich.
»Wo willst du hingehen?« fragte ich.
»Du scheinst wirklich wie eine alpähnliche Amme über mich wachen zu
wollen. Ich gehe selbstverständlich aus, um zu malen — wenn überhaupt
eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, und wenn du nichts dagegen hast!«
Ich hatte ihn geradezu wüthend gemacht. Aber ich liess ihn
gehen, griff selbst nach einem Buche und setzte mich nieder, um zu lesen.
Als die Dämmerung einzutreten begann, schloss ich mein Buch
und legte meine Papiere in den Tischkasten. Dann unternahm ich eine
kleine Entdeckungsreise hinaus durch die Corridore und Treppengänge
des alten Gasthofes, die damit endete, dass ich in ein angeräuchertes
Billardzimmer gelangte, wo die Lampe an der Decke schon angezündet
war, und wo ich einige Partien mit einem kleinen Kellner mit schwäch-
lichen Augen spielte, der sich überdies so erkältet hatte, dass ich die
Points selbst aufrufen musste. Nach und nach fanden sich Gäste ein,
wahrscheinlich Einwohner des Ortes und einige Leute aus der Um-
gegend. Es war ja schlechtes Wetter für Alle.
Besonders fiel mir ein junger Landmann auf, schlank gewachsen,
wohl gebaut, mit gebräuntem Gesichte, weisser Stirn, gutmüthig und
mit einer kräftigen Stimme. Er schien in allen Beziehungen zu jenen
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 168, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0168.html)