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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 170

Text

170 DRACHMANN.

»Angst! Warum denn?«

Der junge Forstrath sah vom Billard auf und zeigte unter einem
breiten, offenen Lächeln wiederum seine weissen Zähne.

»Na, ich meine vor dem Maler. Er könnte Sie vielleicht aus-
stechen, Forstrath!«

»Ich bin mit Josefine verlobt!« sagte der Forstrath mit einer
ganz leisen ernsten Betonung. Dann schlug er wieder seinen spassenden
Ton an und sagte: »Sie kann sich doch amüsiren, wie sie Lust hat.
Es wäre doch eine Sünde, ihr ihren Spass zu verderben! Und nun
sprechen wir nicht mehr hievon. Revanche, meine Herren! Ich gebe
wieder vor!« —

Ich blieb noch, bis dieses Spiel aus war. Man unterhielt sich
von verschiedenen Dingen, die nur ein locales Interesse hatten. Als die
Partie zu Ende war, stellte der junge Bräutigam sein Queue hin in die
Reihe der anderen und ging.

Bald nachher ging ich auch. Ich gelangte wieder auf einige ver-
wickelte Gänge und Corridore und öffnete zuletzt irgend eine Thüre
auf gut Glück. Ich stand in unserem Arbeitszimmer. Nun wusste ich,
auf welchem Wege die Erscheinung von gestern Abend zu meinem
Freunde gelangt war; und ich wusste noch mehr als dieses.

Ich zündete die Lampe an und schloss das Fenster. Immer noch
ein feiner Regen draussen in der Finsterniss. »Ach, ein bischen un-
schuldige Koketterie!« dachte ich. »Man langweilt sich natürlich hier
in diesem abgelegenen Winkel der Welt. Der Bräutigam ist liberal;
das Mädchen ist munter und fidel. Und Heinrich ist ein Schwärmer,
wie sehr er sich auch zu verbergen sucht. Ich muss sehen, ob ich ihn
nicht nach und. nach von hier weg bekommen kann. Ich muss ernst
und vernünftig zu ihm sprechen; ich muss ihn auf das ‚Unrichtige‘ in
seiner Handlungsweise aufmerksam machen. Dafür pflegt er ja Ver-
ständniss zu besitzen; und ausserdem — man kann sich doch nicht
ernstlich an ein so flüchtiges Wesen hängen, das erstens meinen
Widerpart da drinnen vom Billarde hat wählen können — und dann «

Ja, und dann, als Heinrich kurz darauf heim kam und sich
augenscheinlich zerstreut in einen Stuhl warf, äusserte ich natürlich
kein Wort ihm gegenüber. Denn was haben wir denn für ein Recht,
uns in die Angelegenheiten Anderer zu mischen, besonders wenn sie
von derartigem Charakter sind? Ernten wir nicht immer nur Undank
dafür? Und würden wir nicht selbst ein Einmischen von anderer Seite
auf gleiche Weise lohnen? Und dann noch eines: gibt es eine bessere
Erziehung in der Welt, als selbst zu prüfen, selbst zu lernen und selbst
zu erkennen?

Diesen Abend gingen wir Beide zu gleicher Zeit zu Bett, und
ich lag noch lange und hörte, wie sich Heinrich drehte und wendete,
ohne einschlafen zu können. Endlich aber fiel er doch in Schlaf, und
ich bin auf jeden Fall überzeugt, dass er nicht wieder aufstand und
sich ankleidete, um in unserem gemeinsamen Arbeitszimmer Besuch zu
empfangen.

(Fortsetzung folgt.)


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 5, S. 170, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-05_n0170.html)