Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 304

Lebensmusik (Wille, Bruno)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 304

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304 WILLE.

und Zahl und Nervenreiz! Das sind ja nur Mittel, in denen die hehre
Ordnung sich ausdrückt!«

Schwärmerin! — Ich seufzte.

Da schwoll das Wogen draussen, raunend wiegten die Bäume
ihre Häupter, der Nachtwind bewegte die offene Balkonthür und brauste:
»Komm’ heraus!«

Und ich trat auf den Balkon, liess mir die Stirn umwallen und
blickte zum Himmel. Anfangs war ich noch durch die Lampe ge-
blendet. Dann erblühte mir immer voller die Sternenpracht. Und
staunend — trunken — taumelnd sack meine Seele in das Silber-
meer — in die Weiten der Milchstrasse — von Lichtblume zu Licht-
blume. Und es saugen alle Sterne — wie Flöten, Harfen und Posaunen.
Wogen von Orgelklang flammte der Orion — die schaukelten mich
und donnerten: »Siehst du nun Sternenmusik?«

Da wankte ich — zurück ins Zimmer. In den Händen barg ich
das Gesicht.

Die Guitarre, die ich gestreift hatte, mahnte mit leisem Klange:
»Wohlan! Sterne machen Musik mit ihren Strahlen. Du mache Musik
mit deinem Leben!«

O, könnte ich das! Liesse sich alle Zerrissenheit wandeln in
Harmonie! Lebensmusik — o hehre Kunst! Wie aber sie vollbringen?
Wie Lebensmusiker werden?

»Horche nur auf das grosse Zusammenstimmen — horche, bis
du es stets vernimmst!«

Das grosse Zusammenstimmen! Hatte ich es nicht wirklich schon
vernommen? Wie eben die Sterne, so hatten mir auch auch schon die
Berge geklungen — und Wolken — und Wälder — und dunkle
Auen — zitternde Fluthen, durch deren Uferweiden der Vollmond
glühte Stimmung — Poesie — das also ist Lebensmusik! Der
Künstler erfasst das grosse Zusammenstimmen — wenigstens bruchstück-
weise. Sein Werk ist eine Weltbetrachtung im Sinne der Lebensmusik.
Also Künstler werden — ein ganzer Künstler!

»Recht so! Doch heiliger, seliger noch als Musiker und Dichter
ist der Lebenskünstler!«

Ja, heilig, selig — liebe Freundin! Das Leben wie eine Künstler-
geige führen! Harmonisch einstimmen in die Weltensymphonie! In
glühendem Wetteifer mit den anderen Instrumenten den Lebensreigen
schlingen — immer grossartiger, immer seliger — ja, das wäre die
Kunst der Künste! Doch ich — bin zu klein dafür! Wohl, der Orion
droben — ist solch ein Musikant — und Mutter Erde

»Sei nicht verzagt! Ich sogar — Holz und Saite — fühle mich
berufen, mitzuwirken im grossen Orchester. Um wieviel mehr bist du
es, reiche Seele! Doch was thust du? Septimenaccorde ohne Auflösung
greifst du!«

Ja, liesse sich ein Menschenleben gestalten wie ein Gedicht — ganz
aus dem Innern heraus — mit Freiheit, Plan, Schöpfermacht — fürwahr
ein köstlich Leben wollt ich mir dichten! Doch die Störer, die Störer!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 304, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0304.html)