Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 305

Lebensmusik (Wille, Bruno)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 305

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LEBENSMUSIK. 305

»Die müssen sein! Gäbe es wohl Musik, wenn nicht Störer den
einigen Zusammenklang entzweiten? Erst aus Entzweiung entspringt
Versöhnung — aus dem Septimenaccorde die Auflösung. Nur so ent-
wickelt sich die Melodie.«

Und auch in mir, meinst du, sollen die Störer eine Auflösung
anregen und die Melodie entwickeln? Das — liesse sich hören! Nur
sind die Störer, die ich meine, nicht wie Septimen. Die Septime be-
rührt wehmüthig, schmerzlich — nicht unmusikalisch. Sie bleibt im
Rahmen der Kunst. Anders die Störer der Lebensmusik. Roh tappen
sie herein — zerstören alle Harmonie Da möchte man vor Ver-
zweiflung gleich das ganze Instrument zerschlagen

»Wie du einst mich zerschlagen wolltest — als du anfingst, auf
mir zu spielen, und ich unter deinen ungelenken Fingern wimmerte.
Und doch schlägst du jetzt ganz wacker die Saiten.«

Nun gut, zerschlagen wir also das Lebensinstrument nicht! Dafür
zeige mir aber, wie man Lebensmusiker wird!

»Frage lieber das Lebensinstrument! Ein schlichtes Musikholz,
wie ich, kann dir wenig helfen.«

So? Wozu dann erst die grossen Redensarten?

»Sei nicht unwirsch! Ich kann ja nur rathen, wie ich es mir denke.
Und da scheint mir: Lass die Störer nur so weit in deine Lebensmusik
eingreifen, wie in das einige Zusammenklingen die Septime eingreift.«

Ja, wenn ich die Störer meistern könnte!

»Dich musst du meistern — dann meisterst du die Störer!
Weisst du, wie neulich dein Büchergestell stürzte? Es gab einen wüsten
Krach, der auch mich erschütterte. Ich aber klang harmonisch. Warum?
Ich war gestimmt. Stimme dich! Dann können die Störer nicht verwüsten.
Das heilige Gesetz des Innern wandelt ihr Einbrechen in Einstimmen.«

Ich soll mich stimmen — Harmonie in mir herstellen — mit
mir einig sein?

»Mit dir einig — und mit dem Weltenchorus einig!«

Du meinst, Fühlen und Denken soll harmonisch sein mit dem
grossen Ganzen?

»Alles in dir muss einig sein mit dem Weltenchorus — auch
dein Denken! Stimme dein Denken!«

Du hältst es nicht für einig? Meine Weltanschauung steht doch
wohlgefügt, geschlossen da!

»Zu Septimenaccorden ohne Auflösung führt sie!«

Nur deshalb thut sie das, weil sie nicht stark genug herrscht.
Noch allzusehr bin ich Weichling — ein Rest von Romantik wohnt
hier — der muss endlich ausgerottet werden! Des Kopfes strenge
Ordnung soll den ganzen Menschen durchdringen — das empfindsame
Seelchen hat zu verzichten!

»Nicht doch! Das thut weh! Gerade weil Seelchen verzichten
soll, bist du friedlos!«

Soll sich etwa der Kopf vor der Seele ducken? Das wäre eine
klägliche Ehe!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 8, S. 305, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-08_n0305.html)