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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 362

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362 GARBORG.

Seite wirklich etwas Tüchtiges herauskommt; aber — das geschieht
eben so selten, dünkt ihr. Ob sie nun findet, dass Literatur ein Fach
ist, das ausnahmsweise den Frauen nicht liegt, oder ob der Zusammen-
hang der ist, dass sie aus einer älteren, vornehmeren Zeit her noch
etwas von der ursprünglichen weiblichen Ueberlegenheit hat, von dem
alten Frauenstolz, der meint, all diese Schinderei, alle diese grobe
und ausserhäusliche Arbeit — das müssten doch wirklich die Manns-
leute besorgen weiss ich nicht. Frau Lie räsonnirt jedenfalls
nicht so. Doch in ihrem Gefühl mag sie schon etwas von dieser
Art haben.

Das echte Weib fühlt sich dem Mann nicht minder überlegen
als dieser dem Weib. Ihre Hochnasigkeit äussert sich als mütterliches
Mitleid gegenüber seiner grossen Dummheit und Hilflosigkeit in des
Lebens feineren Wendungen, während er mehr hahnenartig auf ihre
»Schwäche« herabsieht; jede Rasse stellt unwillkürlich ihre eigene
Begabung zuhöchst. Das schliesst nicht aus, dass man in aller Stille
einander bewundert, weil Eines beim Anderen die Gaben findet, die
ihm selber mangeln; diese eigenthümliche Verbindung von Mitleid und
Bewunderung schafft im Verein mit dem erotischen Element die Liebe.
Nur in Verfallszeiten schwächt sich sowohl das Ueberlegenheits- als
das Bemutterungsgefühl und kann in die Empfindung der Unter-
legenheit und der Missgunst übergehen, die in unseren Tagen sowohl
den Männerhass als andererseits den »Strindbergianismus« hervorbringt.
Unser Dichterpaar steht diesen beiden Phänomenen gleich fern,
während sie doch zugleich eine im besten Sinn »moderne Ehe« mit
einander leben.

Denn dies ist unter allen Umständen gewiss, dass Frau Lie’s
Stellung zur Verfasserschaft ihres Mannes in hohem Grad eine be-
deutungsvolle ist.

Durch Blut- wie durch Wahlverwandtschaft ihm nahe, versteht
sie ihn im Innersten und ganz; das ist die tiefe und sichere Grundlage
ihres Einflusses. Nicht bloss das Persönliche, Seelische versteht sie an
ihm; selbst künstlerisch veranlagt, versteht sie den Künstler in ihm.
Ihres Geistes Klarheit, ihr sicherer Geschmack und unmittelbarer Sinn
für Schönheit und Form machen sie zu einem höchst wünschenswerthen
Mitarbeiter für einen Dichter, dessen Begabung wesentlich schöpferische
Intuition und der ungemein schwach ist, wenn es gilt, zu unter-
scheiden und zu urtheilen.

Sie ist da vor Allem seine lebendig gewordene Selbstkritik. Sie
ist aber auch mehr. Mit ihrer stärkeren künstlerischen Logik und
ihrem sicheren Sinn für das Wesentliche und Unwesentliche kann sie
ihm unter der Arbeit selbst helfen. Wenn er — der in Bildern sieht
und daher ins Episodische fortgetrieben wird — sich in allerlei
Seiten- und Blindgeleise festgefahren, so dass das eigentliche Thema
ihm entschlüpfen will, bringt sie ihn mit einem festen Griff auf das
Hauptgeleise zurück, so dass der Train seiner Phantasie wieder rollen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 362, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0362.html)