Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 363
Wie Jonas Lie lebt und dichtet (Garborg, Arne)
Text
kann. Auf alle Fälle hilft sie ihm, wie ich weiss, in dieser Art, wenn
es eine mündliche Erzählung vor einem Zuhörerkreise gilt.
»Ja, die Geschichte ist wirklich gut,« sagt Lie, »die werd’ ich
erzählen. Kann ich die, Thommen?«
»O ja,« meint sie, »ich denke wohl. Ja, lass uns sie haben, Jonas!«
Er legt los. Es kann im Anfang dabei ein und das andere
Hinderniss geben — Einzelheiten, an die er sich nicht genau erinnert;
das bringt sie rasch in Ordnung und — »so; nun kannst du weiter.«
Und er kann. Mit vollem Leben entwickelt sich, wenn er aufgelegt ist,
die Geschichte Bild um Bild. Nein; da beginnt er zu stolpern, und
auf einmal stoppt er. »Wie war das nun eigentlich, du?« Oder sie
merkt selbst, dass er auf falscher Spur ist, greift mit Bestimmtheit
ein: — »nein, Jonas; das ist falsch; lass das mich erzählen.« In
sicheren, klaren Zügen ordnet sie dann die Fäden der Geschichte;
er sitzt da und sieht sie an, die Augen voll Bewunderung. Da gibt’s
kein Wirrniss, da! Wenn die Fahrwasser klar sind, überlässt sie ihm
wieder das Wort, und die Erzählung gleitet weiter, in grossen stillen
Bildern und kann ausgezeichnet werden.
Aus ihrer reichen Menschen- und Frauenerfahrung heraus hat
sie auch in verschiedener Richtung seine Stoffkenntniss erweitern
können; seine Frauengestalten stehen gewiss in mehr als einer Hinsicht
in ihrer Schuld. Sie kann ihn auch »inspiriren«; einzelne seiner Bücher
(wie »Der Lotse«) sind als Idee in ihr entstanden. Jedenfalls wird er,
wenn er mit ihr einen Vorwurf erwägt, der ihn beschäftigt, stets seine
Auffassung der Dinge durch sie geklärt und bereichert fühlen.
Im Anfang bestand ihre Mitarbeiterschaft bloss darin, ihm
»streichen zu helfen«. Aber nach und nach hat sich eine wirkliche
Zusammenarbeit entwickelt, eine »Künstlerehe« im höchsten Sinne —
ein Verhältniss, ebenso schön wie reich an stillem Glück.
Doch auch mit seinen kleinen Stürmen.
Wenn er eine Weile gegangen ist und sich mit einem Thema
beschäftigt hat, so weit, dass er sieht, ob etwas daraus werden kann,
setzt er sich an seinen Schreibtisch und fängt zu arbeiten an. Erst
wenn er die Feder in der Hand hat, kommen die Gedanken und
Einfälle, d. h. die Einzelheiten. Er kritzelt das Alles miteinander hin,
wie es kommt; schreibt nie öfters als einmal. Dann liest er es seiner
Frau vor; sie reden darüber, erwägen und verwerfen — und streichen.
In Massen. Aber Lie hat dies Streichen nicht gern. Er vertheidigt
seine Geschöpfe, vielleicht um so eifriger, je schwächer sie sind, wird
böse, wild, schlagt die Knöchel auf den Tisch, packt die Feder oder
was ihm sonst zunächst in die Hand fällt — doch merkwürdig genug,
nie das Tintenfass — und schleudert es an die Wand oder auf die
Erde oder sonst wo hin, doch nie ins Fenster Aber Thomasine
entwickelt und erklärt, und schliesslich wird er schwach, »Ja ja; Du
hast Recht; es ist dennoch wohl das Gescheiteste — zu streichen.«
Es wird berichtet, dass seine Manuscripte zuletzt entsetzlich
aussehen — voll »mit Linien kreuz und quer und Ausgestrichenem und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 363, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0363.html)