Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 364
Wie Jonas Lie lebt und dichtet (Garborg, Arne)
Text
Eingeschobenem und Zusätzen und Zeichen und Stecknadeln und
Gummi; Andere können es nicht lesen, manchesmal er selbst nicht.«
Aber dann werden sie von Thomasine ins Reine geschrieben und ge-
langen in schönstem Zustand nach Kopenhagen, von wo er sie als
Bücher zurück bekommt; — Correctur liest er niemals.
Auch für Jonas Lie’s persönliche Entwicklung hat Thomasine
die grösste Bedeutung gehabt. Sie sieht die neuen Gedanken und Be-
wegungen der Zeit, während er noch, ohne eine Ahnung, »in seinem
Keller verkorkt liegt«; durch ihre Einwirkung wird er dann aufmerksam
und bringt sie nach und nach in seinen Kopf, nicht ohne allerhand
Bedenken. Denn nicht einmal von ihr kann Lie etwas auf Borg
nehmen
In den letzten Jahren ist Lie hie und da kränklich gewesen.
Der alte Raufbold und Sportsmann hat es in seiner Ehe zu gut
gehabt. Frau Thomasine hat ihn rein verzärtelt. Als ich in Paris war,
sass er am liebsten auf dem Sopha neben dem Ofen, in Shawls und
Decken eingeballt, und fürchtete sich vor Zug. Bald war’s ein Rheuma-
tismus, bald eine Verkühlung — accurat als wäre es einer von uns
Anderen.
Uebrigens war es wohl eigentlich Ueberanstrengung, was ihn
geschwächt hatte. Er ist »ungewöhnlich normal gesund«, sagen die
Aerzte; aber das kann sogar für einen Drontheimer zu viel werden.
Ein oder zwei Bücher jährlich durch zwanzig Jahre, so was begeht
man nicht ungestraft.
Dazu ist die Buchmacherei ein stillsitzendes Geschäft. Die Pariser
Winter mit ihrer kaltfeuchten Luft waren auf die Dauer auch nichts
für einen Schlittschuhläufer aus Norwegen. Lie kränkelte und kränkelte,
bis er im Winter 1891 unterlag und zur Koje musste; da lag er ein
paar Monate und rang mit einem ziemlich ernsten Fieber.
Er phantasirte stark. Tummelte sich zwischen Thier und Troll
in Meer und Luft und Nebelheim; hierauf kam »eine Periode mit
stumpfem Kopf, wackelnden Beinen, mit Delicatessen gestopft werden«,
bis er wohl genug war, nach Berchtesgaden zu ziehen. Da wurden
die wilden Fieberphantasien zum Buch »Trollgeschichten«.
Aber noch war er weitaus nicht geheilt. An einen Pariser Winter
war nicht zu denken; spät im Herbst zog er nach Italien. Nach
16 Jahren sah er Rom wieder. »Hier ist klare Luft,« schrieb er, »und
gelber Sonnenschein und des Abends ein feingeschnittener Neumond
mit etwas Blauschimmerndem, das an Diana und Endymion und die
Mythen erinnert. Hier ist ein andererer Tag und eine andere Nacht,
ein anderes Land, eines mit Cypressen und Lorbeer und Myrten
über grossen, alten Gräbern, ein ganzes Land voller Gräber.«
Sie lebten sehr einsam und still in Rom; Lie brauchte Ruhe.
Er war der Alte; aber die Krankheit hatte ihn mager und zart gemacht;
er schien mir nicht frischer, als ich selber oft war, ging so scirocco-
grimmig und ärgerlich herum, dass er gar nicht Leute sehen wollte.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 364, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0364.html)