Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 365
Wie Jonas Lie lebt und dichtet (Garborg, Arne)
Text
An solchen Tagen war es nicht unbedenklich, ihn allein auf
die Strasse zu lassen — wegen seines Jähzorns. Da gab es diese ver-
dammten Kutscher. Sie sind so freundlich, die Leute; kaum sehen sie
einen Fremden zu Fuss auf der Strasse, kommen sie gefahren: »Volle?
volle?« — »Nolle,« schrie Jonas Lie; er sollte ja, zum Kuckuck hinein,
zu Fuss gehen. Aber sie verfolgten ihn. Dieser noble, ältere Herr —
wahrscheinlich ein Geistlicher, da er keinen Bart trug — sollte er
nicht fahren wollen? Es musste die pure Zerstreutheit sein: »Volle?
volle?« — Lie blickte barsch drein, ging gerade aus vorwärts und
that nicht dergleichen; — »Volle? volle?« Er ging schnell oder sehr
langsam; sie folgten und folgten. Fuhren ganz aufs Trottoir hinauf
oder, wo keines war, direct bis an seine Beine, oder sie hielten
plötzlich bei einem Strassenübergang, so dass er in seiner Kurzsichtigkeit
fast unter die Räder kam: »Illustrissimo signore« Da konnte der
Zorn in ihn fahren. Kupferflammroth hob er den Stock: »Wart’, ich
werd’ dich illustriren —!!« Ich glaube aber nicht, dass es ihm jemals
glückte, einen Scandal hervorzurufen. Allein er vertrug es fast nicht,
dass man überhaupt von Kutschern vor ihm sprach, und im Ganzen
ärgerte und quälte ihn die ewige Geldrederei und die durchgängige
Unehrlichkeit da drunten fürchterlich.
Nach dem Ruhejahr in Rom kehrte er nach Paris zurück. Und
nun wagte er den grossen Entschluss: nach zwölfjähriger Abwesenheit
Norwegen wiederzusehen; genau genommen war es nichts als nor-
wegische Luft, was ihm fehlte. Dieser Beschluss war schon mehr als
einmal vorher gefasst worden. »Gott, wie Vater sich nach Norwegen
sehnt,« schreibt Frau Isaachsen, seine Tochter, einmal: »das ist nun
fast krankhaft geworden, glaube ich. Wir waren eines Tages in Paris
bei einer norwegischen Familie zu Besuch. Sie hatten eben eine
Pflanze aus Norwegen geschickt erhalten — also in norwegische Erde
eingepflanzt. Als Vater sich unbemerkt glaubte, sah ich ihn zur Pflanze
hingehen, den Leuten den Rücken wenden, andachtsvoll eine Hand
‚norwegische Erde‘ nehmen und zum Muude führen — ob er sie
küsste oder ass, weiss ich nicht! — Aber er sah so rührend feierlich
aus, dass ich begriff, wie tief er diese Erde liebe.« Doch stets war
etwas dazwischen gekommen.
Und es hatte auch jetzt sein Bedenkliches. Heimkommen, das
hiess mitten in zerrissene Verhältnisse kommen, in Kampf und Streit
und Hass, in dem Bruder gegen Bruder und Vater gegen Sohn steht
und das ganze Nationalgefühl engagirt ist. Aber nun mochte es dabei
bleiben. Im Sommer halten wohl sogar wir Norweger Frieden, und
jedenfalls musste man doch einen Fleck finden können, irgendwo
abseits von Landstrasse und Stadt, wo ein norwegischer Dichter noch
an der Brust des Vaterlandes wird ausruhen dürfen, ohne über seine
»Standpunkte« Rechenschaft zu geben.
Der friedliche Fleck wurde gefunden: Holskogen bei Christians-
sund. Und so kam es dazu.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 365, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0365.html)