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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 402

Text

402 ALBERT.

Es war an einem schönen Sommerabende vor jetzt bald drei
Jahren. Die Sonne warf ihre letzten goldenen Strahlen auf die grünen
Bäume der Seine-Ufer, und die bestaubten Bücherkasten der Antiquare
auf der breiten Brüstung des Quais hatten einen fast geheimnissvollen
Glanz. Ich kam gerade von der Nationalbibliothek durch das Louvre
und über den Pont des Arts in mein liebes Quartier Latin zurück.
Vor einem Kasten mit alten Schweinslederbänden blieb ich stehen.
Da klopfte mir Jemand vertraulich auf die Schulter. Es war ein kleiner
Junge mit einer grossen Mappe. Er schien seine Kleider noch auf
den Schulbänken abgejuckt zu haben. Die langen Arme ragten aus
kurzen Aermeln heraus, und die Beinkleider waren das Formloseste, was
man sich träumen kann. Just eine Caricatur von Oberländer. Aber die
grauen lebhaften Augen blickten so klug unter der hohen, intelligenten
Stirne hervor, und der verzerrte Mund hatte etwas Gieriges. Wir hatten
uns auf dem Redactionsbureau einer jungen Revue flüchtig kennen
gelernt. Es war Ernest La Jeunesse.

»Ich will ein Buch gegen Sie schreiben!« schrie er mich
brüsk an.

Ich verstand nicht.

»Ja!« fuhr er fort, und seine Stimme war ein Krähen wie das-
jenige eines Knaben, der nicht aus der Moutirzeit herauskommt. »Ja,
Sie haben in einem Aufsatz über Nietzsche geschrieben: »Comment
pourrait-on vivre selon Napoléon?‘ Ich werde zeigen, dass man Na-
poleon gemäss leben kann. Ich werde die ‚Imitation de notre Maitre
Napoléon‘ schreiben.«

Er hatte seine rothen Hände tief in den Hosentaschen begraben
und fing an, mir den Plan seines Buches zu erklären. Wir plauderten
lange, und seitdem sind wir immer gute Freunde geblieben. Wir haben
uns stets frei heraus die ärgsten Grobheiten gesagt, aber das thut
nichts zur Sache.

Damals war La Jeunesse noch ein obscurer Literaturjunge; jetzt
ist er ein berühmter Mann und schreibt in die grossen Blätter. Er
ist aber immer noch der kleine Kerl mit den krummen Kleidern. Die
Kleider sind zwar jetzt nach neuestem Schnitt, doch er scheint sich
nicht hineinfinden zu wollen, und er bleibt der kleine Schalk, gassen-
jungen-artig und muthwillig.

Gleich mit seinem ersten Buche ist La Jeunesse in das grosse
Publicum gedrungen. Es war eine Sammlung von launischen Essays,
welche den bizarren Titel: »Les Nuits, les Ennuis et les Ames de nos
plus notoires Contemporains« trug. Hier defilirte Alles, was die fran-
zösische Literatur der Gegenwart an Berühmtheiten besitzt, und es
liess diese Herren selbst erzählen, was in ihrer Seele vorging. Anatole
France betet zur heiligen Jungfrau, Loti hält einen langen Monolog,
der alte Daudet massregelt seinen Sohn, Mendés kommt nach einem
Bankett bezecht nach Hause Man muss aber nicht glauben, dass

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 402, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0402.html)