Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 403
Ernest La Jeunesse (Albert, Henri)
Text
es sich um Nachahmungen der Manier dieser zwanzig notorischen
Leute, die hier vorgeführt waren, handelte. Wohl waren Coppée’sche
Verse geschickt parodirt, und die Hochzeit von Henri de Regnier
war in Heredia’schen Sonetten verherrlicht, aber eigentlich handelte
es sich viel mehr um Herrn La Jeunesse selbst als um seine Opfer.
Gefoppt war Derjenige, welcher in diesem Buche Indiscretionen über
die Lebensweise unserer berühmten Zeitgenossen suchte. Es kam wohl
von Zeit zu Zeit eine kleine Bosheit heraus, so z. B. wenn der Ver-
fasser durchblicken lässt, er habe beim Antiquar ein Buch des Herrn
Soundso, das eine handschriftliche Dedication an einen anderen Herrn
Soundso trug, gefunden. Im Grunde erzählte uns La Jeunesse bloss
die Abenteuer seiner eigenen Seele — derjenigen eines sehr belesenen,
mit Literatur vollgepfropften jungen Mannes — in den Werken derer,
die er so lange einsam geliebt hatte. Seine eigenen Sensationen, sein
geistiger Zustand, seine Zweifel gibt er uns wieder, wenn er Diesen
oder Jenen von seiner Grösse herab reden lässt. Und schließlich
schliesslich fragt er sich, ob es wirklich der Mühe werth war, die
Reise von Nancy nach Paris zu machen (17 Francs 65 Centimes in
III. Classe), um diese Leute von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
»Je suis venu, calme orphelin « sagt er mit dem Dichter
Verlaine. »Ich bin, ohne daran Schuld zu sein, unter Leute von Geist,
von Talent und von Genie gefallen; sie sind Alle sehr liebenswürdig
gewesen, haben mir Bier angeboten — das ich bezahlt habe.« Was
nützt es auch, eine schöne Seele zu haben?
Diese »berühmten Zeitgenossen«, sie kamen dem Schuljungen
aus dem Lyceum zu Nancy vor, wie die »höheren Menschen« dem
Zarathustra erschienen. Sie arbeiten nicht dem Uebermenschen ent-
gegen, und auch unser Schuljunge träumte schon von Uebermenschen,
er träumte von seinem Napoleon.
Doch nicht als Apologet des flachhaarigen Corsen — solche
unbegreifliche Verirrungen sind hier nicht selten — hat sich La
Jeunesse einen Namen gemacht. Seinem, wir müssen es sagen, schlechten
Erstlingswerk verdankt er allein seinen Erfolg. Der etwas verächtliche
Ton des Buches hatte der akademischen Kritik gefallen. Die Laroumet,
die Faguet, die Doumic priesen darin neben der Gelehrsamkeit das
kleinliche Niederdrücken der freien (nicht akademischen) Talente. Das
Nörgeln hatte bei den Nörglern Beifall gefunden, und auch was der
junge Polemist mit (der Vergleich ist etwas scharf) Aretino ge-
meinsam hat. Als der »Napoleon« erschien, da schwiegen sie
Vor Jahresfrist gab sie der Verleger Charpentier diese »Imitatio
Napoleonis«, die wir mit so grosser Spannung erwartet hatten. Es ist
ein lyrisches Buch, wo flammende Begeisterung zittert, ein Buch voll
zurückgehaltener Gluth und gedämpfter Lyrik, doch dunkel und un-
gleich, voll verworrener und tiefer Gedanken, die ohne Ordnung auf-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 403, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0403.html)