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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 404

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404 ALBERT.

einander folgen, als habe man es mit einem deutschen Buche zu thun.
Und es ist auch ein Buch, das man lieben muss, selbst wenn man
Napoleon nicht liebt, und auch La Jeunesse nicht liebt, weil es ein
unabhängiges Buch ist, das einen Schritt bedeutet zu Befreiung von
der »dégrandante égalité« eines Rousseau, an der das moderne Frank-
reich zugrunde geht. »Ich möchte der Welt einen neuen Meister und
ein neues Schauspiel darbieten«, heisst es zu Anfang. Der junge Mann
sucht einen »code d’énergie«. Von seinem Irren durch die Literatur
der Gegenwart ist er müde und kraftlos zurückgekehrt. Hier gebe ich
ihm sein »manuel de bonne volonté«, das all seine Traurigkeiten und
all seine Aufschwünge begleiten soll. »Seid ehrgeizig, mit einem Ehr-
geize aller Augenblicke, einem spasmodischen, wüthenden und bissigen
Ehrgeize, der aber zugleich erhaben und ruhig sein würde.« »Gebt
euch wenigstens die innere Komödie des Triumphes, auf dass ihr euch
selbst das Ave Caesar! zurufen könnt.« Lang habt ihr nach einem
Meister gesucht, ohne ihn zu finden. Man hat euch Wege weisen
wollen, die nicht eure Wege waren: Tolstoy? oder den »Disciple«?
oder die Moral des Herrn de Vogué? Wenn ihr eure Vorgänger fragt,
was ihr thun sollt, so werden sie euch antworten: »Seinen Weg bahnen.«
»Faire son tron! Mitten im Gedränge sich bemühen, um schliesslich,
von Rippenstoss zu Fusstritt, wohin zu gelangen?« Nein, hier ist euer
Vorbild, berauscht euch an dem Anblick! — »Ich möchte, dass dieses
Buch für den jungen Mann zugleich seine Essais de Montaigne, sein
Montaigne und sein Macchiavelle seien.« — — Und der Verfasser
gibt diese Rathschläge, »wie man eine Uhr schenkt, die man gestohlen
hat — Napoleon, es gibt viele Leute, die dich lieben und dich be-
wundern: was liegt mir daran, ich allein verstehe und liebe dich!«
»Für mich bist du weder Kaiser noch König, für mich bist du das
Leben selbst!« — —

Und nun geht es im Zickzack durch das ganze Buch, ein Hin-
und Herschweifen von der Anarchie zu den Russenfesten, durch das
Paris der historischen Erinnerungen, auf öffentlichen Plätzen und mitten
im Gemenge der Strassen, und durch das politische Paris der letzten
Jahre Auf Irrwegen kehren wir wieder in die Vergangenheit zu-
rück; Erlebnisse aus dem Leben Napoleons ziehen die Seiten entlang;
es kommt ein Todtengespräch zwischen einer flüchtigen Geliebten
Rousseau’s und einer noch flüchtigeren Geliebten Bonaparte’s, von dem
diese Zeitschrift gleichzeitig eine Uebersetzung bringt; dann werden
literarische Persönlichkeiten heraufbeschworen, Stendhal mit seinem Julien
Sorel, der sich bei der Leetüre des »Memorial de Saint-Hélène« den
Kopf erhitzt (»Le Rouge et le Noir«), Brummel und sein Dandysmus,
Ignaz von Loyola

Doch die praktischen Schlüsse dieser Imitatio? Wie kann der
Drang nach Macht verwirklicht werden? Wir hatten bereits Beispiele
aus Nero und Nietzsche, aus Borgia und Stirner, und Herr Maurice
Barrès hatte uns zum »Cultus des Ich« vertröstet. La Jeunesse gibt
uns das Gespräch mit einem General. Aber der General ist alt, er

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 11, S. 404, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-11_n0404.html)