Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 484
Ein Besuch bei Johannes Brahms (Behrend, Wilhelm)
Text
mit treffenden Worten sagt: Brahms hat »die Melancholie des Unver-
mögens«, ist der Musiker des Sehnsuchtsvollen, Unbefriedigten —
selbstverständlich geistig Unbefriedigten — dann kann die Berechtigung
hiervon wieder auf Brahms’ bösen Stern zurückgeführt werden: man
wollte, er sollte ein Genie sein, ein Kunsterneuerer, und er war
nur ein Talent, ein reich begabter, fleissig arbeitender Epigone und
Eklektiker.
Die Sehnsucht, das Höchste zu erreichen, das Streben, den Stoff,
den er in Arbeit nahm, zu erschöpfen, der Stolz: zu sein, nicht zu
scheinen, und zugleich der Ehrgeiz: sein grosses, namentlich contra-
punktisches Können zu zeigen — all’ das hat Brahms’ späteren Werken
das Gepräge der Schwermuth, des Grüblerischen, der mühsamen
Empfängniss gegeben, über die die Kritik wieder und wieder geklagt
hat, und die das grosse Publikum abgeschreckt hat, das in der Musik
zuerst und vor Allem (und mit Recht) von dem unmittelbar Hervor-
sprudelnden, von den grossen, anschaulichen Gedanken, den reinen, klaren
Linien ergriffen wird.
Aber war nun Brahms auch kein Genie, und hätte er niemals
als solches ausposaunt werden sollen, so soll diese Erkenntniss nur
psychologisch seine Unzufriedenheit und Bitterkeit verständlich machen,
das sehnende Streben seiner Musik und die selten erreichte Vollkommenheit.
Dagegen darf sie nicht dafür blind machen, welch grossen Künstler
die Musikwelt in ihm verloren hat. Er erreichte niemals den frohen,
vertrauensvollen Aufschwung, aber wenn er in seiner Musik seine milde
Wehmuth ausstrahlen lässt, dann müssen wir gerührt werden und mit
ihm fühlen (besonders wenn es in den kleinen Formen geschieht, denn
sonst kann die Wehmuth in unbestimmte Gefühlsduselei ausarten) und
wenn er mit eisernem Willen sein Werk aufbaut, mit einer »thema-
tischen« Kraft, welche sich mit der der Besten messen kann, oft mit
einer Kühnheit, die beweist, dass er mit den Classikern wohl verwandt
war und doch keineswegs ein »Conservativer« — dann müssen wir uns
in Ehrfurcht beugen. Aber am meisten müssen wir ihn wohl bewundern
und ihn liebgewinnen als den tieffühlenden, grossdenkenden Künstler,
wenn wir ihm in einem Werke wie »Ein deutsches Requiem« gegen-
überstehen — dem innigen, ernsten, schwermüthigen Klagegesang am
Grabe seiner Mutter.
Und selbst wenn die Werke, in denen die Gediegenheit der Arbeit
nicht völlig der Unbestimmtheit des Inhalts oder dem »akademischen«
Ausdruck abzuhelfen vermag, dann gilt, was ein dänischer Musiker ein-
mal so richtig ausdrückte: Brahms sagt seine besten Dinge en passant.
Ja, so ist es. Bisweilen wälzt Brahms gleichsam die schwere Ver-
antwortung, alle Genieverpflichtungen von seinen Schultern, schiebt die
»Arbeit« bei Seite und zeigt sein eigenes Antlitz mit dem liebenswürdigen,
ein wenig wehmüthigen Lächeln. Solche anmuthige, herzgewinnende
Stellen verrathen eine liebenswürdige Künstlerpersönlichkeit mit einem
innerlichen Drange, Aller Freund zu sein, eine stille Lust nach dem
bunten Leben, aber auch eine schwermuthvolle Ohnmacht, es zu ge-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 484, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0484.html)