Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 485
Ein Besuch bei Johannes Brahms (Behrend, Wilhelm)
Text
niessen. Bezeichnend ist in dieser Beziehung seine häufige Benützung
des Tanzrhythmus, ohne dass er jemals zu dem freien, munteren Tanz
selbst gelangt.
Als ich meinen Wiener Bekannten in Musikkreisen erzählte, dass
ich zum Theil nach Wien gekommen wäre, um Johannes Brahms zu
sehen und, wenn möglich, persönlich kennen zu lernen, machten sie
recht bedenkliche Gesichter. Brahms war, nach der Aussage Aller, ein
sehr unzugänglicher Mann. Diejenigen, welche ihn persönlich kannten
und Sympathie für ihn empfanden (von seinen eigentlichen »Anhängern«
traf ich keinen) erklärten, dass er sehr munter und heiter sein könnte.
Diejenigen, die ihm fern standen, persönlich und künstlerisch, die
Bruckner-Anbeter, die bereits zahlreich waren in Wien, erklärten rund
heraus, dass ich keine Freude von meinem Besuche haben würde, und
dass Brahms bisweilen gegen Fremde »geradezu unverschämt« wäre,
besonders wenn sie von Musik sprächen, sowohl von seiner eigenen,
als der seiner Rivalen.
Es gab damals zwei ausgesprochene und scharf entgegengesetzte
Parteien in der Wiener Musikwelt; die Brahmsianer und die
Brucknerianer. Die Ersten hatten lange Zeit Bruckner und seine Musik
nicht geschont; nun, da sie siegreich an Terrain gewann, da sie sich
als eine im Aufgang begriffene Kunst zeigte, ist es wohl möglich,
dass Bruckners Leute, junge, begeisterte Musiker und Studenten, eine
sehr grosse Gleichmütigkeit für Brahms’ Musik und einen Unwillen
gegen seine Person affectirten. Für einen Fremden war es nicht ganz
leicht, sich zurechtzufinden. Aber sicher ist, dass ich mir trotz einer
guten »Einführungskarte« von Joseph Joachim — deren formeller, gar
nicht collegialischer Styl mich in Erstaunen versetzt hatte — von
einem Besuche bei Brahms nicht viel Gutes versprach, und ich schob
ihn denn auch von einem Tage zum anderen auf, bis ich nur noch
ein paar Tage für Wien übrig hatte.
Brahms wohnte in der Carlsgasse in der Vorstadt Wieden. Die
Carlsgasse ist eine bescheidene, schmale Strasse, die von den kleinen
Anlagen längs der Ufer der »Wien« hinter dem grossen Barock-
gebäude der Carlskirche emporsteigt, die mit ihrer imponirenden Stein-
masse und ihren Säulenreihen die ganze Umgebung beherrscht. Es
war ein altes, ehrwürdiges Haus, in dem der Meister wohnte. Nach
der Strasse öffnete sich ein gewölbter, ziegelgepflasterter Thorweg, und
von diesem schlängelte sich durch das Gebäude hinauf eine dieser
Kalksteinwendeltreppen, die man in Wiener Privathäusern so oft findet
und die eine gewisse klosterartige Stimmung hervorrufen.
Im dritten Stock (»Stiege«) wohnte Dr. Brahms — so hatte
mir es die Frau des »Hausmeisters« angegeben — aber hier, ebenso
wenig wie dort, wo ich sonst in Wien Besuche machte, gaben
Schilder die Namen der Bewohner an.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 485, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0485.html)