Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 486

Ein Besuch bei Johannes Brahms (Behrend, Wilhelm)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 486

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486 BEHREND.

Mit dem herzbeklemmenden Gefühle, wie dieser Besuch wohl ablaufen
würde, stand ich vor der Thüre und klingelte. Seine Haushälterin öffnete.
Ich gab ihr meine Karte, ein wenig gespannt, ob ich empfangen werden
würde. Sie wollte die Karte nicht nehmen, sondern sagte mit einem
Lächeln, der Doctor liesse niemals Jemand bei sich anmelden. Wenn
er nicht arbeitete, empfinge er Jeden, der ihn besuchen wollte. Arbeitete
er aber, so empfinge er Niemand. Und sie fügte hinzu: »Gehen Sie
nur durch dieses Zimmer, dann treffen Sie ihn im nächsten.«

Damit öffnete sie eine Thüre, und ich stand allein in —
Brahms’ Schlafzimmer. Diese formlose Einführung bei einem Deutschen
und zudem einer Berühmtheit überraschte mich; ich hätte eigentlich
recht gerne gesehen, dass meine Karte und meine »Empfehlung«
meiner Person vorausgegangen wäre.

Indessen, ich musste ja weiter, und nachdem ich meinen Blick
in dem geräumigen Zimmer hatte umherwandern lassen, in dem
Brahms’ »Staatskleider« sorgfältig auf das Bett gelegt waren, klopfte
ich an die Glasthüre, die mit grünseidenen Gardinen zugezogen war
und in das Allerheiligste des Meisters hineinführte.

»Herein!« ertönte es, und ich trat hinein.

Von dem Schreibtischstuhle am Fenster in der fernsten Ecke
des grossen, aber niedrigen Zimmers erhob sich ein kleiner, corpu-
lenter Mann. Höflich, aber ein wenig reservirt kam er mir entgegen
und reichte mir die Hand.

Während er Joachims Karte las, hatte ich Zeit, ihn näher zu
betrachten, und ich sah nun, dass er einen sehr einfachen und sehr
bequemen Hausanzug trug. Lichtbraunes Jaquet, keinen Kragen, eine
offenstehende Weste, die ein Jäger’sches Wollhemd oben von dem
blossen Halse, bis dort, wo es sich über den dicken Bauch ausbreitete,
sehen liess. Dieses Wollhemd, das ganz ungenirt gezeigt wurde und
nicht einmal ordentlich zugeknöpft war, hatte etwas eigenthümlich
Gemüthliches, Studentisches, etwas Vertrauliches, »unter uns«, das ich
eigentlich gar nicht erwartet hatte und das mir meine Sicherheit gegen-
über dem berühmten Künstler wiedergab. Es sollte sich glücklicherweise
zeigen, dass ich dieses Kleidungsstück richtig gedeutet hatte.

Brahms’ Kopf war hübsch und gross. Vielleicht erschien auch
die Figur kleiner als sie war, aber sie fesselte durch ihre männliche
Kraft und die reinen, wenn auch nicht feinen Linien. Das Gesicht
war von frischer, röthlicher Farbe und länglich, oder vielleicht liess
der lange, spitz geschnittene grauweisse Bart es so erscheinen. Das
Haar wuchs frei und starrte bei den Ohren in langen, lächerlichen
Büscheln hinaus. Ein wenig dünn war dies graue Haar, jedenfalls
jetzt, da es sich im Negligé präsentirte — Ueberbleibsel eines echten
»Künstlerhaares«. Hinter der Brille, die Brahms freilich auch nur
in seinen späteren Jahren und bei sich zu Hause trug, leuchteten die
kleinen, blaugrauen, lebhaften und klugen, aber nicht gerade »tiefen« Augen.

Das Zimmer, das Brahms’ Arbeits- und Wohnzimmer zu sein
schien, war sehr bescheiden eingerichtet. Ein grosser Flügel, der mit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 486, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0486.html)