Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 487
Ein Besuch bei Johannes Brahms (Behrend, Wilhelm)
Text
einer grünen Decke bedeckt war, ein Tisch mit Sopha und Stühlen,
und ringsum mehrere kleine Tische mit Massen von Noten und Büchern,
die in regelmässige Stapel geordnet waren. Von Notenpapier oder
Manuscripten sah ich nichts, weder auf dem Schreibtisch noch auf
dem Clavier. Gemüthlich war der Raum nicht.
Als Brahms die Karte gelesen hatte, nickte er mir freundlich
zu, lud mich zum Sitzen auf dem Sopha ein, reichte mir ein Kästchen
Cigaretten, zündete sich selbst eine an und setzte sich mir gegenüber
an den Tisch — oder vielmehr ein wenig davon, aus Rücksicht auf
seinen Umfang. Die Arme legte er gerade vor sich auf den Tisch mit
gefalteten Händen und im Gegensatz zu der Gewohnheit der Wiener
gestikulirte er sehr wenig, während er sprach. Seine Hände waren
klein und fein, mit schönen, sorgfältig gepflegten Nägeln.
Als wir so einander gegenüber sassen, plauderten wir ganz
gemüthlich miteinander. Bald hatte jedes Gefühl, einem grossen Manne
gegenüber zu sitzen, sich bei mir verloren. Brahms’ natürliche Liebens-
würdigkeit, sein lebhaftes Interesse und sein gemüthlicher Con-
versationston bewirkten, dass ich mir ganz bekannt und vertraut mit
ihm vorkam und keine Scheu hegte, mich offen auszusprechen. Aber
ich hatte auch keinen Augenblick das Gefühl, Angesicht zu Angesicht
mit einem genialen oder auch nur ausgesprochen eigenartigen Menschen
zu sein. Freilich, wie sollte Brahms die tiefsten und reichsten Seiten
seiner Natur in einem Gespräch von einer knappen Stunde offenbaren
mit einem Fremden, ihm gleichgiltigen jungen Mann aus dem fernen
Norden? Aber trotzdem, ich weiss, dass ich darauf lauerte, ob
nicht das Genie in einem kurzen Augenblick hindurchbrechen würde
— gerade weil das Gespräch so ruhig und natürlich verlief, würde
es da nicht begreiflich gewesen sein, wenn man einen Gedanken, ein
Wort, ja nur einen Blick aufgefangen hätte, der verrieth: dieser Mann
denkt und fühlt grösser, eigenartiger, als die meisten andern? — In
der Beziehung wurde ich enttäuscht, aber das zerstörte keineswegs
den guten, einnehmenden Eindruck, den ich von Brahms’ Persönlichkeit
empfing.
Ungefähr die ersten Worte, die Brahms zu mir sagte, nachdem
ich ihm erzählt hatte, dass ich an einer Musikgeschichte arbeite, waren:
»Uebrigens dreht sich jetzt hier Alles ja nur um Bruckner!«
Es wurde in spöttischem Ton gesagt, aber nicht ohne einen
gewissen Stachel darin, und dass dies das Erste war, was Brahms
zu einem Fremden sagte, schien mir wohl beachtenswerth. Er erhob
sich zugleich und nahm vom Schreibtisch das Musikblatt, in dem er
gelesen hatte, als ich kam: »Mir ist da gerade ein ganzes Blatt nur
voll Bruckner zugeschickt worden!« und er reichte mir die öster-
reichische Musikzeitung mit den Worten: »Haben Sie Lust, das mit-
zunehmen, dann bitte sehr.«
Ich konnte es nicht unterlassen, zu sagen: »Ja, danke sehr, aber
können Sie es nicht selbst gebrauchen?«
»Nein, ich habe hineingeguckt und gesehen, was mich interessirt.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 487, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0487.html)