Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 488
Ein Besuch bei Johannes Brahms (Behrend, Wilhelm)
Text
Ich steckte das Blatt ein, das mich viel über Bruckners Musik
belehrte und mir eine liebe Erinnerung an den Besuch bei Brahms ist.
Das Gespräch zog sich nun eine Dreiviertelstunde ohne Unter-
brechung hin; ein paarmal wollte ich aufbrechen, da es mir peinlich
war, die Zeit des sonst so unzugänglichen Meisters in Anspruch zu
nehmen. Aber er setzte jedesmal selbst das Gespräch fort. Ich hatte
augenscheinlich das Glück gehabt, in einem Moment zu kommen,
da er das Bedürfniss empfand zu »plaudern«. Aber ich muss auch
hinzufügen, dass ich, gewarnt, wie ich im Voraus war, den delicatesten
Punkten aus dem Wege ging: die Musik überhaupt und besonders
seine eigene, Bruckners und Wagners.
Ich erzählte, dass ich die Beethoven-Häuser in Wien besucht
hätte, und dass das grosse, ein wenig düstere »Schwarzspanierhaus«
(Beethovens Sterbestätte) einen feierlichen und wehmüthigen Eindruck
auf mich gemacht hätte.
»Ach,« sagte Brahms, »ein Fremder kann sich Wien gar nicht
so vorstellen, wie es zu Beethovens Zeit war. Damals lag das Schwarz-
spanierhaus frei und offen, umgeben von Glacisfeldern, halb wie auf
dem Lande. Damals hat es keinen finstern Eindruck gemacht, wie
jetzt in den Gassen.«
Von meinem Ausflug nach Heiligenstadt sprach ich und von dem
fast lächerlich unbedeutenden Beethoven-Museum dort.
»Ja,« sagte Brahms und zeigte nach dem kleinen Zimmer
nebenan hin, dessen Thüre offen stand und wo alle Wände mit
Bücherregalen bedeckt waren. »Ich habe dort drinnen mehr und bessere
Dinge, als sich draussen in dem Museum finden.« Und er, der eine
werthvolle Sammlung von Reliquien aus den Tagen der Classiker
besass, erzählte mit sichtbarem Stolze von einem seiner besten Schätze:
ein Notenblatt, das auf der einen Seite von Beethovens Hand und —
durch einen Zufall — auf der andern von der Schuberts beschrieben
wäre: »er musste ja überall Noten hinschreiben, wo es sich machen liess!«
Und in seine Classiker-Erinnerungen vertieft, fuhr er mit ironischem
Lächeln fort: »Haben Sie gesehen, wie nett man es draussen in
Heiligenstadt mit der Eroika-Gasse und — Bänken längs des Baches ein-
gerichtet hat, wo Beethoven die »Scène am Bach« componirte — nun
kann jeder — bitte sehr — sich recht gemächlich auf die Bank
setzen und die »Pastoralsymphonie« componiren! Das prächtige Geburts-
haus Schuberts haben Sie besucht? Haben Sie die Tafel über der
Thüre gesehen: »Schuberts Geburtshaus« steht da ganz einfach. Nun
müssen Sie wissen, dass es noch heutigen Tages geschieht, dass
Bauernmädchen und Frauen, wenn sie vom Lande hineinkommen —
es liegt ja fast auf der Grenze von Stadt und Land — an der Thüre
anklingeln und nach Herrn Dr. Schubert fragen. Sie meinen, es ist
ein »Gebärhaus« — und Brahms lachte herzlich.
Ich erzählte ihm von der Aufführung seiner Symphonien bei
uns daheim, von ihrer Aufnahme und von Gades Vorliebe für Nr. 3
in F-dur. Das amüsirte ihn zu hören.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 488, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0488.html)