Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 497
Text
sein. Der stets correcte und tactvolle Nesletjeff avancirte auf seinem
Posten nicht so schnell, um beneidet zu werden, aber auch nicht so
langsam, um Andere zu beneiden.
Nachdem sie geheiratet hatten, gab Sergei Modjestowitsch in
seinem äusseren, zur Schau getragenen Benehmen seiner Frau nie
Anlass, ihn zu beschuldigen. Später, als Serafima Alexandrowna in
anderen Umständen war, knüpfte Sergei Modjestowitsch im Stillen leichte,
vorübergehende Verhältnisse an. Serafima Alexandrowna erfuhr das und
fühlte sich zu ihrer Verwunderung nicht besonders gekränkt; sie er-
wartete das Kind mit einem unruhigen, sie ganz in Anspruch nehmenden
Gefühl.
Ein Mädchen kam zur Welt; Serafima Alexandrowna ging in den
Sorgen um die Kleine ganz auf. Anfangs theilte sie ihrem Mann mit
Entzücken die sie freuenden Einzelheiten aus Ljoljas Leben mit. Aber
bald bemerkte sie, dass Sergei Modjestowitsch ihr ohne jede lebhafte
Theilnahme, sondern einzig aus weltmännischer, liebenswürdiger Gewohn-
heit zuhörte. Serafima Alexandrowna begann ihm immer ferner zu
rücken. Sie liebte das Mädchen mit unbefriedigter Leidenschaftlichkeit,
mit der andere Frauen, die sich in der Wahl ihres Schicksales geirrt
haben, ihre Männer mit den erst besten jungen Leuten betrügen
In Ljoljetschkas Kinderstube war es licht und fröhlich
»Mamachen, wollen wir Verstecken spielen?« rief Ljoljetschka.
Ihre anmuthige Unbeholfenheit beim Sprechen machte Serafima
Alexandrowna zärtlich und gerührt lächeln.
Ljoljetschka lief herum, stampfte auf dem Teppich mit ihren
kleinen, dicken Beinchen und versteckte sich hinter den Vorhängen
ihres Bettchens.
»Kuku, Mamachen!« schrie sie mit lachender Stimme und
schaute mit einem schwarzen, schelmischen Auge hervor.
»Wo ist mein Kind?« fragte die Mama, indem sie sich den
Anschein gab, Ljoljetschka zu suchen und sie nicht zu sehen.
Und Ljoljetschka lachte laut und hell in ihrem Zufluchtsort
Dann streckte sie sich noch mehr vor, und die Mama fasste sie bei
den kleinen Schultern, als hätte sie sie soeben erst erblickt und rief
freudig aus: »Ah, hier ist sie, meine Ljoljetschka!« Lange und hell
lachte Ljoljetschka, schmiegte ihren Kopf an Mamas Knie und zappelte
in Mamas weissen Armen, freudig glänzten Mamas schwarze Augen.
»Jetzt versteck’ Du Dich, Mamachen,« sagte Ljoljetschka, die vom
Lachen müde war. Die Mama ging sich verstecken; Ljoljetschka wandte
sich ab, als schaute sie nicht hin, und gab heimlich acht, wohin Mamachen
gehen wird. Die Mama versteckte sich hinter einen Schrank und rief
ihr zu:
»Kuku, mein Kind! « Ljoljetschka lief um das Zimmer herum,
schaute in alle Winkelchen und stellte sich wie vorhin die Mama, als
suchte sie, obgleich sie gelbst gut wusste, wo Mamachen stand.
»Wo ist mein Mamachen? Hier nicht und hier nicht,« sagte sie
und lief in eine andere Ecke.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 13, S. 497, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-13_n0497.html)