Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 577
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eines äusserlichen entrathen und uns Ruhe und Leidenschaften in ihren
feinsten Differenzierungen und in ihren Gradunterschieden aus den
Zügen seiner Wesen sprechen lassen kann, aus ihren Augen und gar
aus ihren Händen, wenn es ihm gefällt, uns das Antlitz vorzuenthalten.
— Das alles aber oft mit den stammelnden Mitteln des Kindes oder
des primitiven Insulaners, in einfachster Umrisszeichnung ohne Ton
und Farbe: in einer Linie, deren Musik unser Empfinden in adäquaten
Rhythmen sich bewegen neigst, einer Linie, die Seele geworden ist. Wie
jetzt schon Einzelnen, so könnte er der Menschheit ein Erzieher sein,
wenn man ihn den würdigen Rahmen für seine Kunst sich schaffen
und ihn den Traum vom Gesammt-Kunstwerk realisieren liesse. Denn
seine und seiner in Zeit und Raum verstreuten Mitstreiter wahrheits-
wie schönheitsvolle Lebensauffassung bleibt uns vielleicht allein noch
als Rettung nach dem Fiasco aller äusserlichen Systeme übrig.
Unter Fidus’ Hand wird alles zum Träger von Empfindungen,
das Bildnis, das architektonische wie sonstiges Gebild von Menschen-
hand, die kosmische Erscheinungswelt. Vor so unmittelbaren Bekennt-
nissen der Dinge dünkt uns die Frage kleinlich, ob uns der Künstler
mit der Stärke seines Anempfindens über die Leblosigkeit der Dinge
hinwegtäusche, oder ob wirklich ein Bewusstsein und ein Odem in
aller Erscheinung lebendig sei. Stärker als wissenschaftliche »Belege«,
nach welchen der Durst der Nüchternen lechzt, überzeugen diese Dinge
da, die ihren eigensten Charakter ausschwitzen. Dramatisch lebhaft in
einem vornehmen Sinne, d. h. auf mehr gestützt als nur ein äusser-
liches Geschehen, wird Fidus’ Ideenkunst da, wo zwei solcher eine Eigen-
heit bildenden Charaktersphären aneinanderprallen. In unserem Innern
wird ein correspondierendes Moment lebendig, es stösst sich da und
vereinigt sich in der Seele, denn es ist ein Kämpfen und Versöhnen
der Lebensprincipien, der offenbaren wie geheimen, denen auch wir
unterworfen sind, was da in den tiefen Bildersymbolen hin und her
flutet. Dieses reiche Geben und Empfangen, dieser stumme Dialog der
sich gegenüberstehenden Wesenheiten, dieses lebhafte Ergänzen des
einen durch das andere, das Einander-Durchdringen und -Durchblitzen,
ein Kämpfen und Ringen mit dem Schicksal oder dem Unerforschlichen,
ein Funkensprühen hin und wieder hält unsere Aufmerksamkeit ge-
fangen, wie ein unerhörtes kosmisches Drama. Wir haben in Fidus
eins von den Instrumenten, von der Natur auserlesen, dass sie ihre
gewaltigen Weisen darauf spiele; da säuselt lind ihr Odem hinein und
wirbelt sich vom Lyrisch-Lieblichen empor bis zum Erhaben-Erschüt-
ternden. Und alles weist auf den Menschen, es ist unser Kampf,
von dem er redet, und wir horchen ihm mit Entzücken und sehnen-
dem Schmerze zu. Nur eines gibt Fidus die Kraft und erlaubt ihm
die Sammlung, so von unserem Kampfe berichten zu können: er steht
im Schaffen schon auf einem Punkt, der über Freud und Leid, gut
und böse gelegen ist, so dass sich ihm die Antagonismen als vom
Schöpfer ausgesandte Engel darstellen, die mit ihrem ewigen Schüren
und Hineinlocken, und indem sie uns von erworbener Gläubigkeit und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 577, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0577.html)