Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 578
Text
Gewissheit in immer neue Zweifel stürzen, dem Menschen sein hei-
ligstes Gesetz erfüllen helfen, sich zu läutern und dem Antlitz seines
Gottes immer ähnlicher zu werden. So kann er Kunstwerke schaffen,
die mit ihren tiefen Fragen und Antworten zu aller Menschen Seelen
sprechen und auch den packen, der das private Seelenbekenntnis des
Künstlers nicht theilt. Denn es geht uns an, was er sagt.
Zu jenen gehört Fidus, die zu sich sprechen: Nichts Mensch-
liches soll mir fremd sein! Mit ihnen geräth er auch auf Gebiete,
auf denen sich nie vorher ein Pionnier zu schaffen machte. Ihn, der
es liebt, uns seine Menschen in der Begegnung mit dem Wunder-
baren zu zeigen, musste die künstlerische Erfassung der Mysterien des
Geschlechtslebens locken. Was das Leben, die Welt erhält, sollte es
so heilig oder so unheilig sein, dass man nicht in tiefer Begeisterung
von ihm reden dürfe? Er durchbrach die Convention und machte
sich an die ersten Versuche. Aber er begnügte sich nicht mit der
Gewissheit, dass eine reine Kunst wie die seine sich an dieses Problem
wagen dürfe. Die Anwendung einer genetischen Darstellung des
Zeugungslebens dachte er sich erst im Dienste eines bestimmten
heiligen Zweckes, am letzten Ende eines Cults der zeugenden Gottheit.
Hier traf er wieder zusammen mit den Neigungen, die sich schon in
frühester Jugend bei ihm regten: seinen Neigungen für die Baukunst
grossen Stils, die er als das geeignete Mittel gewaltigster Contemplation
angewendet wissen wollte. Wohl fängt hier das Gebiet des grossen
Künstlertraums an. Doch dieser ist wichtig für die Beurtheilung seiner
ganzen Kunst wie überhaupt unserer Zeit, die sich erkühnt, in bewusster
Weise dem Leben Richtungslinien zu geben. Dieser Künstlertraum
ist eins mit dem Traum von einem idealen Menschenleben: freies
Wollen in Wissenheit, ein Ausleben der Persönlichkeit, ein brüder-
liches Schreiten mit dem Schicksal, ein freier hoher Bund des Mannes
mit dem Weibe, geschlossen in Besinnung auf die Verbindung mit
den Kräften und in Verantwortlichkeit gegen die Kräfte, die in aller
Welt Weiten lebendig sind. Er dient einer Idealcultur und ist ein
Kämpfer. Deshalb sehe ich in seiner Kunst Thaten.
Der alte Jammer liess auch ihn nicht genügend frei sein. Er
hatte nicht oft Gelegenheit, seinen kühnen Ideen, sei es auch nur auf
der grösseren Ebene des Decorativen, eine ihnen gemässe Anwendung
zu geben. Doch nun fühlt er sich den schwersten Fesseln entrungen
und ist daran, sich den wuchtigeren Aufgaben mit ganzem Eifer
zuzuwenden, die in ihm nach Lösung drängen. Mit einer gleichsam
capitalistischen Ausbeutung seines Genies, soweit es den Leuten genehm
geworden ist, könnte er sich nun gütlich thun. Aber er gehört zu den
Strebenden, denen gefälliges Verweilen nicht frommen will, die es
treibt, »von einem Licht fort in das andere zu gehen«. Er ist jung
und hat noch viel Fonds, und wird also freudig wie bisher sich zu
denen halten, die uns des Lebens Grenzen zu erweitern wissen.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 15, S. 578, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-15_n0578.html)