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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 607

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DIE MAIWIESE. 607

ununterbrochen, bis sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen und
seinem Kopfe angepasst war. Er hatte sie gewissermassen zwischen
das Räderwerk seines Gehirns geworfen, sie darin zermahlen und dann
in einen Teig geknetet, den er für seine eigene Ausgeburt ansehen
konnte. Keine Kunst, Überredung oder Gewalt hätte ihn mehr davon
abbringen können, dass auf der Maiwiese ein Lebensbaum wachse
voll mit Äpfeln, die den Schaden jenes ersten, als eine Art Gegengift,
wieder gutmachen würden. Gemäss seiner Gründlichkeit studierte er
alles, was über Fragen dieser Art jemals geschrieben worden war, und
trat dann, mit umfassender Sachkenntnis gerüstet, predigend unter der
Hofgesellschaft auf. Die meisten, da sie auf altrömische Strenge und
Heilighaltung der Ehe eingeschult waren, hatten anfänglich Mühe, sich
in den fröhlichen Naturdienst zu schicken, der ihnen plötzlich zu
gemuthet wurde, und die Männer fühlten sich in ihrem frivolen
Schlendrian viel zu behaglich, als dass sie sich zu der stolzen und
kindlichen Unbefangenheit, die dem Prinzen vorschwebte, gleich ein
Herz hätten fassen können. Indessen, weil sie gewohnt waren, sich
ihr inneres Leben von ihm vorschreiben zu lassen, bildeten sie sich
bald ein, für die Maiwiese zu schwärmen und sammelten allmählich
auch einen Sentenzenschatz, um die Nothwendigkeit und den Nutzen
dieser Einrichtung zu beweisen.

Eines Tages erschien denn wirklich, wie sich noch jedermann
errinnern wird, in den öffentlichen Blättern eine fürstliche Verordnung,
die Prinz Asche selbst verfasst hatte, und worin er nach langen und
breiten Erörterungen anzeigte, dass wie im Spätherbst ein Tag den
Todten geweiht sei, so im Mai drei Tage und drei Nächte den
Liebenden frei sein sollten. Alt und jung, arm und reich, ledig,
vermählt und verwitwet wurde ermuntert, sich zu dieser Zeit in dem
grossen königlichen Parke einzufinden, der als Maiwiese instand gesetzt
werden würde. Damit niemand Bedenken trüge, der Aufforderung Folge
zu leisten, verkündete Prinz Asche am Schlusse, dass er selbst und sein
Hof an dem allgemeinen Frühlings- und Liebesfeste theilnehmen wolle.

Diese wohlmeinende Anordnung brachte anfangs nicht die er-
wartete Erschütterung hervor, denn unsere Bürger lasen sie wie eine
besonders frech aufgeblasene Reclame oder anderen Zeitungs-Humbug,
etwa mit den Nebengedanken, dass die Narrheit der hohen Herrschaften
nun einmal etwas Hergebrachtes und mit in den Kauf zu nehmen sei.
Erst als allmählich durch Gespräche und Weitersagen die Wahrheit
in ihrem vollem Umfange an den Tag kam, verbreitete sich ein panischer
Schrecken, nicht anders als hätte es geheissen, das Theater stehe in
Flammen, oder die Juden hatten die Brunnen vergiftet. Man hielt es
für eine ausgemachte Sache, dass man einen tollgewordenen Prinzen
auf dem Throne sitzen hatte, der jeden Augenblick mit einem neuen,
mörderischen Aberwitz hervorbrechen könnte; was ja auch nicht
unmöglich gewesen wäre. Einige wenige meinten, dass er nur
ein schwacher Verführter sei, dem ein teuflischer Rathgeber, was denn
auf mich gieng, in die Ohren bliese. Es bildeten sich nun schleunigst

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 607, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0607.html)