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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 612

Text

612 HUCH.

und lockend ansah. Wie ihr Gesicht in der elektrischen Beleuchtung
sehr weiss erschien, wirkten ihre Lippen dagegen mit unnatürlicher
Röthe; der ganze zarte Leib mahnte mich an einen hohen vene-
tianischen Glaskelch, in dem eine Flamme brennt, die ihn im nächsten
Augenblicke zerspringen machen kann. Ja, als ob er schon anfienge,
in der Glut zu schmelzen, neigte er sich zitternd zu dem Prinzen
hinüber. Sie schienen mir in dieser Stellung ein eigenartiges, modernes
Bild von Adam und Eva darzustellen. Wie ich mich nun langsam
näherte, um ihnen diesen Einfall mitzutheilen, konnte ich den Inhalt
ihres Gespräches vernehmen; denn der Prinz war gerade bei Wieder-
holung einer seiner Reden über die freie Liebe, die mir von mehr-
maligem Zuhören schon ganz geläufig war. Die Stelle lautete ungefähr
so: es ist in der Natur des Menschen, dass der Anblick eines jeden
Exemplares des entgegengesetzten Geschlechtes zur Liebe reizen kann.
Jeder kann jede lieben, wenn die Umstände günstig sind. Die Natur
konnte sich nicht deutlicher gegen das monogamische Princip aus-
sprechen. Es ist das Gesetz der Trägheit, das die Ehe hat entstehen
lassen. Man gewöhnt sich an die Person, die einem täglich dieselben
Sinneseindrücke erneuert. Gibt es aber etwas niedrigeres als die Ge-
wohnheit? Worauf ich Reine antworten hörte: »Es ist auch Gewohnheit,
dass die Erde sich um die Sonne dreht und der Mond um die Erde«,
bei welchen Worten sie sich unterbrach, da sie meiner gewahr ge-
worden war, um mir zu winken. Ich hielt es aber für besser, weiter-
zugehen, denn ich sah dem Prinzen von weitem an, wie überreizt er
war, wenn er auch dasass wie aus Eisen gemacht, und wusste, es
würde ihm unlieb sein, sich beobachtet zu fühlen. Seit seiner Kindheit
war es sein Leiden gewesen, dass er sich nicht äussern konnte, wie
ihm denn auch das Weinen versagt zu sein schien. Dabei hatte er
nichts von einem Stoiker an sich, vielmehr hatte seine Seele beim
kleinsten Schmerzensreize Lust zu weinen, und seinen Augen war ein
gewisser, thränengieriger Ausdruck eigen, der einem bis ins Eingeweide
gieng. Mit ebensolchen verschmachteten, frierenden Augen hatte er
Reine angesehen, während er wie ein Schulmeister vor ihr sass und
streng wachte, dass keiner ihrer sehnsüchtigen Gedanken aus dem
Schulkäfig ins Freie flog.

Nachher habe ich noch folgendes gesehen: die Baronin Stephanie,
die noch fortglänzte, als Mond und Sterne schon untergegangen waren,
stolz und lustverbreitend auf einer Moosbank sass wie auf einem
damastenen Sessel, und den Herren, die um sie herumstanden, eine
mit Humor und Schärfe gewürzte Rede hielt, warum aus der Maiwiese
nichts rechtes hätte werden können. Denn, wie es schien, hatte sie es
sich doch anders vorgestellt. Ihr habt zulange mit der Natur gebuhlt,
sagte sie, als dass ihr sie noch lieben könntet. Wenn der liebe Gott
plötzlich an vier goldenen Fäden das Paradies in unsere Cultur hinab-
liesse, es würde keiner hineingehen als ein paar kleine Kinder, ein
paar verträumte Mädchen und überzählige Greise. Dann fand ich die
kleine Ulla. Sie lag unter einer Trauerbirke, die ganz vereinzelt, wie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 612, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0612.html)