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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 613

Text

DIE MAIWIESE. 613

ein sentimentales Bildchen aus alter Zeit, auf einer Rasenfläche stand,
recht gemacht, dass zärtliche Kinder ein todtes Vögelchen darunter
begrüben. Nicht viel anders lag sie auch da, ausser dass sie an den
lang herabhängenden Zweigen zupfte, so dass der klagende Baum
wirklich seine grünen Arme über ihr zu neigen schien. Wie ein Kind
kam sie mir vor, das sich beim Spiel allzugut versteckt hat, so dass
die anderen müde wurden, es zu suchen und es nun allein bleibt,
während die Kameraden draussen sich tummeln und lachen.

Nicht weit von dieser Birke ist die Kastanienallee, von der ich
gesprochen habe. Sie grenzte an den Festplatz der Makkabäer und
dehnte sich, still, dunkel und verlassen wie ein Nirwana zwischen
Himmel und Erde. Als ich den Baron Leo dort begegnete, schien er
mir auch gar nicht ein Mensch mit Blut und Leben zu sein, sondern
ein armer, zu ewiger Unruhe verdammter Geist. Ich schob meinen
Arm unter seinen, suchte seinen Schritt zu zügeln und erzählte ihm,
dass ich soeben seine Frau gesehen hätte, wobei ich so von ihr
sprach, wie es mir geeignet schien, um seine Eifersucht vor ihm
selber lächerlich zu machen. Übrigens glaube ich, dass er weniger
selbst Zweifel in ihre Treue setzte, als unter dem Bewusstsein litt,
dass in anderen ein solcher Zweifel sein könne, der auf keine Weise
zu widerlegen war, da sie nun einmal die Maiwiese besucht hatte.
Diese Schwäche und Eitelkeit an ihm wahrzunehmen machte mich
ungeduldig und ich liess ihn in seiner hilflosen Verzweiflung allein,
wo er sich bald hernach erschossen haben mag; denn früh am
Morgen, als die Gärtner in den Park kamen, fanden sie seinen Leichnam
schon ganz erstarrt. Nun war die Maiwiese voll von dunkeln, häss-
lichen Blutflecken, und niemand bei Hofe sprach mehr davon, ge-
schweige denn dass jemand sich hingetraut hätte. Besonders als die
Dunkelheit kam, schien ein übelmachender Mordgeruch davon in die
Höhe zu steigen und durch alle Ritzen und Fugen in das Schloss
einzudringen. Es war infolge dessen das seltsamste Schauspiel, das
ich mich erinnere gesehen zu haben, wie das tolle Fest nun weiter-
gieng, weil der Prinz den Muth nicht hatte oder nicht daran dachte,
den Besuch des Parkes für die folgenden zwei Tage und Nächte, die
einmal anberaumt waren, zu verbieten. Es mag sein, dass sich die
Bürgerschaft im ganzen ebenso fernhielt wie der Hof und dass es
allerhand verzweifeltes Gesindel und kecke Abenteurer waren, die, die
Umstände benutzend, den verödeten Park überschwemmten. Denn am
Tage blieb es todtenstill, bei Nacht hingegen raste die tolle Aus-
gelassenheit über den ganzen Platz ohne Unterschied, wie es nicht
wilder und phantastischer sein könnte, wenn die Todten aus den
Gräbern kämen, um sich in einer Mitternacht für die Bitterkeit des
Todtseins zu entschädigen. Prinz Asche sass bei geschlossenen Fenstern,
ohne ein Wort über das, was er empfand, zu äussern, wie er denn
überhaupt seit der Maiwiese gegen keinen Menschen mehr aus dem
Innern herausgesprochen hat. Dies darf ich wohl glauben, da ich von
jeher der einzige gewesen war, vor dem er sich ganz gehen liess,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 613, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0613.html)