Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 617
Text
sanften ruhigen Augen halbverschleiert ins Wesenlose blickend, so
war Burne-Jones der stille Priester der Schönheit. Ein Christuskopf,
aber ohne den ekstatischen, funkelnden Blick des religiösen Schwärmers,
der eine Sendung zu erfüllen hat. Auf der vorletzten Ausstellung des
Aquarellistenclubs im Künstlerhaus war den Wienern die seltene
Gelegenheit geboten, ein Originalbild von Burne-Jones zu sehen. Es
war aus Privatbesitz geliehen und stellte dar eine »Scene aus dem
altfranzösischen Roman de la Rose«. Der Pilger, der auszog, die Liebe
zu suchen, gelangt in den von einer rothen Mauer umgebenen Garten
des Lebens und erblickt paarweise tanzend: Freundlichkeit und Heiter-
keit, Schönheit und Liebe, Reichthum und Freigiebigkeit, Aufrichtigkeit
und Höflichkeit. Die Liebe ist als beflügelter Gott dargestellt und nach
der Überlieferung älterer keltischer Sagen von Vögeln umschwärmt,
die dieser Gottheit heilig waren. Soweit berichtete die kleine Notiz im
Katalog. Wem das Bild aber weiter nichts zu sagen vermochte, der
hatte auch von dieser Inhaltsangabe nicht viel. Dass die englischen
Prärafaeliten im wesentlichen Botticellisten sind, hat man vielfach
behauptet. Der Ausdruck hat seine Bedenken. Vielleicht wäre »im
unwesentlichen« das bessere Wort. Burne-Jones wenigstens scheint
mir nur in einigen Äusserlichkeiten ein Botticelli redivivus. Das hier
ausgestellt gewesene Bild erinnerte wohl in seinem langgestreckten
Format und der reichverzierten Umrahmung an den »Frühling« des
Quattrocentisten: Die stilistische Anordnung und Eintheilung in Gruppen,
die bewegte rhythmische Liniensprache, deren Wesen aus musikalischen
eher wie aus rein malerischen Empfindungen entspringt. Das ganze
durchzittert leise ein Klang von jenem geheimnisvollen Gesetz des
Tactes, der im All fühlbar ist. Und als das am stärksten in die Augen
springende Merkmal Botticelli’scher Wesenheit: Das schwebende Fliessen
und Wehen der Gewänder.
Aber durch diese äusseren Berührungspunkte hindurch lässt sich
nun der ganz verschiedene Wesenskern der beiden Künstler deutlich
genug herausschälen. Botticellis Draperien sind von dem belebenden
Hauch des ersten Frühlingssturms durchweht, der den gewaltigen
Hochsommer der Renaissance zeitigte; seine lebhaft bewegten Figuren
athmen erquickenden Lebensodem, zu dem sie selig erwacht. Burne-
Jones’ überschlanke Gestalten wandeln nur noch wie im Traum daher
und ihre Gewänder sind kaum noch getragen vom scheidenden Herbst-
winde. Spätgeborene einer überfeinerten Cultur, losgelöst von der
Gegenwart, scheinen sie wie längst Verstorbene und verdichten sich nur
noch zu Wesen der Erinnerung, getragen von tiefer, wortloser Sehnsucht.
Es lässt sich ein Ausdruck auf sie anwenden, mit dem die Spiri-
tualisten unseren Sprachsatz bereichert haben: Dematerialisation.
Beide, Botticelli wie Burne-Jones, sind im Grunde ihrer Seelen
Mystiker; beide stehen im innersten Widerspruch mit ihrer eigenen
Zeit. Aber was bei dem Italiener innige Zuversicht und gläubiges Froh-
locken ist, das tönt bei Burne-Jones in einer grossen, stillen Traurigkeit
aus. Botticelli, dessen Glaubenstiefe sich an Dante’schen Visionen und
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 16, S. 617, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-16_n0617.html)