Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 643
Text
Von Dr. EUGEN HEINRICH SCHMITT (Budapest).
Der Marxismus ist eine Theorie, die unmittelbar tief in die
praktischen Lebensverhältnisse des Zeitalters eingreift, und obwohl
seine ursprünglich, sozusagen streng orthodoxe Form kaum von irgend
einem der hervorragenderen Repräsentanten dieser Theorie in der
Gegenwart mehr aufrechterhalten wird, so ist doch sein Grund-
gedanke zum Lebenselemente breiter Schichten der Bevölkerung
geworden und formiert ihre Lebens- und Weltanschauung. Es ist
daher von hohem Interesse, sich Klarheit zu verschaffen über die
eigenthümliche Bedeutung und die voraussichtlichen geschichtlichen
Consequenzen dieser Bewegung.
Auf die mächtige idealistische Welle am Anfang des Jahr-
hundertes folgte eine nicht minder mächtige sensualistisch-materialistische.
Nachdem man früher im Äther des rein Allgemeinen schwebte,
suchte man die sinnliche und die individuelle Seite des Menschen-
wesens in ihrer vollen Berechtigung zur Geltung zu bringen. Verlor
man früher die materielle Seite des Menschen aus dem Auge, so ver-
fiel man jetzt in die entgegengesetzte Einseitigkeit, es erschien die
universale, die ideale Seite, das Geistige als Illusion, als Schemen, als
ideologischer Schatten. Schon Ludwig Feuerbach, der Schüler Hegels,
betonte das sinnliche, das materielle Leben des Menschen als die
einzige reale Seite seines Wesens, aber er betonte das Sinnlich-
Materielle doch nur im allgemeinen, doch nur abstract. Marx macht
den in seinen ökonomisch-materiellen Verhältnissen geschichtlich concret
bestimmten Menschen zum Gegenstand seiner Forschung.
Im Sinne von Marx sind die materiellen Existenzbedingungen, die
dieselben bedingenden Productivkräfte, die Productionsform das
allein entscheidende Moment, welches die Gestaltung aller Formationen
der menschlichen Cultur bestimmt und zugleich als zureichender Erklärungs-
grund erscheint aller Umwälzungen dieser Cultur. Marx und Engels dringen
darauf, dass diese naturwissenschaftlich streng gesondert zu fassenden
Productivkräfte nicht mit ihren Folgen, mit ihrem »Überbau«, mit der poli-
tischen, religiösen, sittlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen Gestaltung
der menschlichen Gesellschaft verwirrt werde. Engels motiviert diese
Theorie damit, dass die Menschen zuerst essen, trinken, wohnen und
sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion etc.
treiben können, und Marx dadurch, »dass nicht das Bewusstsein
der Menschen ihr Sein, sondern umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein
ihr Bewusstsein bestimme«. (In seiner Krtik zur politischen Ökonomie.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 643, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0643.html)