Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 644
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Es springt jedoch hier sogleich in die Augen, dass diese angeblich
concrete Theorie nur eine einseitig abstracte ist. Es lassen sich vor-
erst die juridischen, die politischen, die realen Machtverhältnisse nicht
von den ökonomischen Verhältnissen, von den Productivformen trennen,
sondern jede Production der bisherigen culturellen Entwicklung war
eine durch die concreten Machtverhältnisse rechtlich geregelte Pro-
duction, nicht aber eine abstract-technische Production. Die Technik
selbst, die jene Productivkräfte entwickelt; schwebt mit jenen »Productiv-
kräften »nicht in der Luft, diese »Productivkräfte« entwickeln und verändern
sich nicht wie die Hegel’schen Kategorien aus sich selbst, nach einer
immanenten Dialectik, sondern sie sind ein Product menschlicher Denkfähig-
keit, menschlicher Geistesanlagen, die sich auf einer bestimmten Höhe der
Cultur zu bestimmter Höhe und in eigentümlicher Weise entfalten.
Es ist also die reale Basis, auf der sich technische Productivkräfte ent-
wickeln, die reale Geistesanlage des Menschen, die sich unter bestimmten
Verhältnissen in einem höchst langwierigem Processe geschichtlich
entwickelt hat, die kein einfacher constanter Factor ist, sondern ein nach
den eigenen inneren Gesetzen organisch sich Entfaltendes. Die moderne
Technik z. B. hat keinen Sinn ohne den vorhergehenden grossen
Aufschwung der Naturwissenschaften, ohne die Entwicklung von
Theorien, die lange vorher aufkeimten, ohne praktischen Nutzen zu
bringen. Diese Naturwissenschaft, deren letzte praktische Anwendung
die moderne Technik, hat aber keinen Sinn ohne das Erwachen der
modernen Philosophie, der ganzen Weltanschauung des Westens, die
allerdings im Gegensatz gegen die Theologie, doch auf dem Grunde
der christlichen Weltanschauung sich organisch entwickelte, und ferner
auf der Basis der hellenisch-antiken Cultur der Vergangenheit. In jedem
Stadium der Cultur ist die Culturentwicklung der Jahrtausende der
Vergangenheit, das geistige Erbe zahlloser Generationen, und nicht
etwa blos die ökonomische Constellation der Gegenwart der bestimmende,
schöpferische Factor, der seine immanenten Consequenzen, seine neuen
Formationen des Erkennens und Lebens entfaltet. Nach Marx und
Engels ist auch die Wissenschaft nur ein Reflex, ein passives Spiegel-
bild bestehender ökonomischer Zustände.
So wenig sich aber die Wissenschaft der Mathematik und Logik,
oder die Astronomie sachlich und inhaltlich aus der Ökonomie ableiten
lässt, so wenig die Grundgesetze, nach denen sich Kunst und Wissen-
schaft überhaupt entfalten. Aber allerdings bilden günstige ökonomische
Verhältnisse den entsprechenden Boden, auf welchen die Blume
der Kunst und die Frucht des Erkennens gedeihen kann. Es ist ein
thörichtes Beginnen, aus dem günstigen ökonomischen Verhältnisse der
italienischen Handelsstädte der Renaissancezeit den künstlerischen Inhalt,
die ureigene Form der Kunst dieses Zeitalters ableiten zu wollen. Die
Madonnen Raphaels konnten auf einem solchen günstigen Boden ge-
deihen, und die Schöpfungen Michel Angelos, aber ohne die Gemüths-
vertiefung der christlichen Weltanschauung, die sich der antiken Form-
schönheit verwob, haben diese Schöpfungen keinen Sinn. Es sind solche
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 644, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0644.html)