Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 645
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Versuche einer einseitig materialistisch-ökonomischen Ableitung daher
ebenso roh und dürftig und ungenügend und in den meisten Fällen
höchst augenscheinlich gemacht, wie jener belustigende Versuch, aus
dem Münz-System der jüdischen Handelsleute die Theorien der Kabbala
und Genesis abzuleiten. Es gleicht diese einseitig materialistische Ab-
leitung dem Versuche, den Bau und das Wesen einer Pflanze aus den
ökonomischen Bedingungen ihrer Existenz, aus Bodenbeschaffenheit,
Wasser, Sonne, Luft abzuleiten, ohne die die Pflanze allerdings nicht
»existieren« kann, wobei aber diese Marx-Engels’sche Logik nur
eines vergessen hat, die Pflanze selbst und das immanente
organische Gesetz ihrer Entwicklung.
Alle menschliche Cultur entfaltet also in ihren Phasen, in den
Wellen ihres Entwicklungsganges nur die eigene ursprüngliche Uni-
versalität der Grundanlage des Menschwesens; sie ist ein Fort-
gehen vom Bewusstsein der Allheit, der Unendlichkeit, zu ihrem
Selbstbewusstsein, das heisst zu dem Bewusstsein, dass der
Mensch Himmel und Erde und Sternenmeer nicht ausser sich, sondern
nur in sich, im eigenen Alleben, in der eigenen Allfunction lebendig
erfassen und begreifen könne, dass er somit, eben weil er Function
der Allheit, des Kosmos ist, die Gesetze des Alls nothwendig als
Gesetze des eigenen Denkens und Lebens begreifen müsse. Der
Mangel irgend einer Erkenntnistheorie kennzeichnet daher die völlig
unkritische Denkweise des Materialismus überhaupt, so auch dieses
ökonomischen Materialismus. Menschliche Bedürfnisse, selbst die
materiellen, lassen sich daher nicht nach irgend einem festen
Masse bestimmen. Wenn der Mensch den Genuss des Sinnlichen,
seine ursprüngliche Bestimmung vergessend, zu seinem Hauptziele
macht, so zeigt sich auch hier, dass das Mass des Menschen seine
Masslosigkeit ist, dass er in allen Höhen und Tiefen nur seine
eigene Unendlichkeit sucht. Auch sind, wie die Praktiker der socia-
listischen Agitation wissen, nicht die im ärgsten Elend versunkenen,
sondern die im gewissen Masse materiell relativ bessergestellten und
gesicherten Arbeiter das entsprechende Material für die sociale Bewegung,
der daher nicht eine Frage der Existenz zugrunde liegt, wie Marx
meint, sondern eine Frage der Steigerung cultureller Bedürf-
nisse: etwas der Zeit und den Verhältnissen nach ganz Relatives,
Veränderliches. Ohne Umwälzung in der Weltanschauung und der auf
derselben basierenden sittlich-rechtlichen Anschauungen tritt auch bei
der grössten materiellen Noth, dort wo wirklich die Existenz
von Millionen dahingerafft wird, wie dies periodisch in China und
Indien noch heute geschieht, im Mittelalter wiederholt in Europa ge-
schah, keinerlei sociale Umwälzung ein. Eine Umwälzung in der allge-
meinen Weltanschauung jedoch kann allerdings begünstigt, ja unter
Umständen bedingt werden durch einen Wechsel der Productionsweise,
muss aber vor allem und wesentlich sich als das gereifte Resultat der
Geistesentwicklung der Jahrtausende der Vergangenheit ergeben, als reife
Frucht am Baume der allgemeinen Geistescultur, die der ökonomische
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 645, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0645.html)