Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 646

Zur Kritik des Marxismus (Schmitt, Dr. Eugen Heinrich)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 646

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646 SCHMITT.

Regen und Sonnenschein, oder sein Mangel zwar in ihrer Entwicklung
fördern und hemmen, doch nie schaffen kann.

Es ist heute auch in ernsteren wissenschaftlichen Kreisen der
Theoretiker des Marxismus die höchst naive Art und Weise, in welcher
Marx am Schlusse des ersten Bandes seines »Capital« die Nothwendig-
keit des Überganges von der bürgerlichen zur socialistischen Gesellschaft
zu demonstrieren unternommen hat, als überwundener Standpunkt
achtungsvoll beiseite gestellt worden. Und doch gründet sich der An-
spruch, den Engels in seinem »Antidühring« für den Marxismus erhebt,
dass er nämlich als Zukunftsconstruction nicht Utopie, sondern Wissen-
schaft sei (auch im Sonderabdruck unter dem Titel: »Von der Utopie
zur Wissenschaft« erschienen) auf diese, zwar in geistreicher Anti-
these, aber näher besehen eigentlich doch beinahe kindlich primitiv
gedachte bekannte dialectische Wendung am Schlusse des »Capital«.
Mit der fortschreitenden Expropriation des Mittel- und Kleinbesitzes,
der schliesslich im Proletariat versinkt und dem Schwinden der Zahl
„der Capitalisten soll man endlich dahin gelangen, dass wenige ver-
einzelte Grosscapitalisten der Masse der expropriirten Millionen gegen-
überstehen, denen es dann natürlich nicht viel Mühe kosten wird, diese
wenigen isolierten Menschen zu expropriieren! Die Statistik hat nun er-
wiesen, dass sich zwar die Masse der Proletarier mehre, dass aber der mittlere
und selbst der Kleinbesitz nicht nur nicht schwinde, wie in jener
aprioristischen Construction von Marx vorausgesetzt wird, sondern sich
noch mehre. Nähere Daten führt der Mitarbeiter Kautskys, der be-
kannte wissenschaftliche Vertreter des Socialismus Bernstein in der
»Neuen Zeit« an, im wissenschaftlichen Hauptorgane der Marxisten.
Aber auch wenn wir einen solchen Process der Expropriation voraus-
setzen, so wäre es höchst naiv, sich die fernere Entwicklung in der
Weise, wie sie Marx fasst, vorzustellen. Es entscheidet bekanntlich
die Zahl der Repräsentanten einer Classe in keiner Weise über deren
Macht. Der Umstand, dass das Papstthum im Mittelalter nur durch
je eine Person repräsentiert war, hinderte dasselbe nicht im mindesten,
sozusagen allmächtig zu sein. Die Geldoligarchen Amerikas, sowie jede
ähnliche Macht schaffen sich durch ihre Mittel eine mächtige Schichte
von Anhängern, haben Parlament und Beamtenschaft in ihren Händen
und nehmen ganze Söldnerheere, Pinkertoner, in ihren Dienst, die mit
allen Mitteln unserer furchtbaren modernen Technik ausgerüstet, jeden
Moment auf einen Druck des Telegraphenknopfes bereit stehen, un-
botmässige Arbeitermassen in blutiger Weise zu Paaren zu treiben.
Unter der Herrschaft des niedergehenden Rom hatte Italien keine
oberen Zehntausend, sondern nur mehr obere Zweitausend, und die
Provinz Afrika war in den Händen von einem Dutzend Latifundien-
besitzern. Und doch schlugen die Söldnerheere der Besitzenden alle
Revolutionsversuche der massenhaft »Expropriierten« nieder. Dagegen
erschütterte die gewaltlose Revolution des Urchristenthums das Riesen-
reich trotz der verzweifelten grausamen Verfolgungen der Machthaber
bis ins Mark und hätte es auch der Auflösung unaufhaltsam entgegen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 646, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0646.html)