Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 647
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geführt, wenn nicht die kindliche Unreifheit der Weltanschauung der
Massen den grossen Verrath der Priester ermöglicht hätte, unter Con-
stantin. Und zu jener Zeit, bei den primitiven Waffen jener Cultur,
waren die Massen leicht und schnell zu bewaffnen und bei den pri-
mitiven Communicationen konnten Aufstände riesige Dimensionen an-
nehmen, bevor man in den Mittelpunkten überhaupt Kenntnis nehmen
und Massregeln treffen konnte, die auch ungleich schwerfälliger vor
sich giengen. Heute können ein paar Dutzend Bewaffnete leicht Tausende
von Unbewaffneten im Zaume halten. Doch das Beispiel des Urchristen-
thums zeigt, dass es noch einen anderen, sichereren Weg der Befreiung
gebe für die Massen, der eigentlich der einzige Weg zur Freiheit
ist, der einzige Weg zugleich, um wirklich eine neue Cultur zu schaffen
und nicht im Falle des Erfolges nur die Herren und die Ketten zu
tauschen. Nachdem sich solcher angeblich wissenschaftlich erwiesener
Übergang als utopistische Träumerei erwiesen, kommen wir schliesslich
auf den Nachweis der fundamental utopistischen Natur des Zu-
kunftsprojectes von Marx, welcher Nachweis wieder eine Probe
ist für die Einseitigkeit der Fassung des Culturproblemes in der Weise,
wie Marx in seiner materialistischen Geschichtsmethode die Ökonomie
zur einzigen Grundlage alles culturellen und Geistesleben machen will.
Es entscheidet sich nämlich die Frage nach der Möglichkeit
irgend einer beliebigen Form der menschlichen Gesellschaft durchaus
nicht durch eine solche dialectische Ableitung, sondern eben aus dem
Grundwesen der menschlichen Natur, welches wir seiner geistigen
Seite nach als lebendige Universalität, als Function des Alls erfasst
haben, deren differenziale, höchst feine Schwingung in der bildsamsten
und feinsten chemischen Verbindung im Protoplasma des Gehirnes
sich seinen Resonanzboden zubereitet und seine Formen ausgeprägt
hat. Die Anschauung lebendiger Allheit, das Wesen menschlicher Sitt-
lichkeit, erscheint im religiösen Bewusstsein, und dieses bildet zugleich
die geistige Nahrung und Lebensluft, ohne die der Einzelne nicht wirklich
harmonisch leben und ohne deren alles verbindendes Band keine mensch-
liche Gesellschaft existieren kann. Ohne religiöse Weltanschauung
keine menschliche Cultur, so lautet der positive Satz. Der
Materialismus als Auflösung irgend einer beliebigen
religiösen Weltanschauung ist blosses Übergangsstadium,
und kann einen relativen Fortschritt bedeuten, sofern
er in negativer Weise der neuen, höheren, reli-
giösen Weltanschauung den Boden zubereitet, aber er
ist für sich allein vollkommen culturunfähig. Das ist
der zweite negative Satz, der darüber entscheidet, ob ein beliebiges
Project von Zukunftsgestaltung der Gesellschaft wesentlich utopistisch
ist oder nicht. Freilich ist hiemit noch nichts über die Wirklichkeit
solcher Zukunftsbildungen entschieden, die eine Frage realer, cultureller
Machtfactoren ist. Diese beiden Sätze werden von den positiven
Thatsachen der Geschichte und der sogenannten uto-
pistischen Experimente in völlig zweifelloser Weise bestätigt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 647, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0647.html)