Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 658
Text
Von ANTON TSCHECHOW.
Übersetzung von CLARA BRAUNER.
Iwan Abramitsch Schmuchin, Kosakenofficier a. D., der einst
auf dem Kaukasus gedient hatte und jetzt auf seinem Gute lebte, der
einst jung, gesund, stark, jetzt aber alt, dürr und gebückt war, buschige
Augenbrauen und einen grauen, grünlichen Schnurrbart besass, kehrte
an einem heissen Sommertage aus der Stadt auf seine Besitzung
zurück. In der Stadt war er bei der Communion gewesen und hatte
beim Notar sein Testament geschrieben (vor zwei Wochen hatte er
einen leichten Schlaganfall gehabt), und jetzt während der ganzen
Fahrt im Waggon verliessen ihn nicht die traurigen, ernsten Gedanken
an den nahen Tod, an das Eitle des Daseins, an die Vergänglichkeit
alles Irdischen Auf der Station Prowalje — es gibt eine solche
auf der Donlinie — stieg in seinen Waggon ein blonder, wohl-
genährter Herr von mittlerem Alter, mit einem abgeschabten Porte-
feuille und setzte sich ihm gegenüber. Sie kamen ins Gespräch.
— Ja, ja — sagte Iwan Abramitsch, indem er nachdenklich
durchs Fenster schaute. — Es ist nie zu spät zum Heiraten. Ich
selbst habe mit 48 Jahren geheiratet, man sagte, es sei zu spät, es
war aber weder zu spät noch zu früh, es wäre am besten, gar nicht
zu heiraten. Ein jeder wird seiner Frau bald überdrüssig, aber nicht
ein jeder sagt die Wahrheit, denn, wissen sie, man schämt sich
eines unglücklichen Familienlebens und verheimlicht es. Gar mancher
geht um seine Frau herum — »Manja, Manja«, und wenn es nach
ihm gienge, hätte er diese Manja in einen Sack und in die Scheune
gesteckt. Mit der Frau langweilt man sich, da gibt’s nichts als
Dummheit. Auch mit den Kindern ist’s nicht besser, ich kann Sie
versichern. Ich habe, wissen Sie, zwei davon. Hier, in der Steppe,
hat man nicht Gelegenheit sie etwas lernen zu lassen; um sie nach
Tscherkassk zu geben, hab’ ich kein Geld, sie leben also hier wie die
jungen Wölfe. Man kann’s jeden Tag erwarten, dass sie auf der
Landstrasse jemand umbringen
Der blonde Herr hörte aufmerksam zu, beantwortete die an ihn
gerichteten Fragen leise und kurz, und schien ruhig und bescheiden
zu sein. Er stellte sich als einen Advocaten vor und sagte, er fahre
geschäftlich in das Dorf Djujewka.
*) Petschenjegen — wildes Nomadenvolk, das im IX. Jahrhundert im
Süden Russlands lebte und die russischen Gebiete verheerte.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 658, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0658.html)