Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 659
Text
— Aber das ist ja neun Werst von mir, Du mein Herrgott! —
sagte Schmuchin in so einem Ton, als streite jemand mit ihm.
— Aber, erlauben Sie, auf der Station werden Sie jetzt keine Pferde
finden. Meiner Meinung nach, wissen Sie, ist es für Sie am besten,
gleich zu mir zu fahren, Sie werden bei mir übernachten und des
Morgens mit Gott auf meinen Pferden weiterfahren.“
Der Advocat überlegte es sich und willigte ein.
Als sie auf die Station kamen, stand die Sonne schon tief über
der Steppe. Den ganzen Weg von der Station bis zum Gut schwiegen
sie: das Schütteln des Wagens störte beim Sprechen. Der Wagen
sprang, winselte und schien zu schluchzen, als verursachten ihm seine
Sprünge heftige Schmerzen, und der Advocat, welcher sehr unbequem
sass, schaute voller Sehnsucht in die Ferne: ob das Gut noch nicht
zu sehen sei. Nachdem sie acht Werst gefahren waren, erschien in
der Ferne ein niederes Haus und ein Hof, der von einem Zaun aus
dunklem Sandstein eingeschlossen war; das Dach des Hauses war
grün, die Stuccatur war abgesprungen, die Fenster waren klein und
schmal, gleich zusammengekniffenen Augen. Das Haus stand in der
rechten Sonne und nirgends in der Runde waren Wasser oder Bäume
zu sehen. Bei den benachbarten Gutsbesitzern und den Bauern hiess
es »das Petschenjegengut«. Vor vielen Jahren hatte ein vorüber-
fahrender Geometer auf dem Gut übernachtet und die ganze Nacht
mit Iwan Abramitsch gesprochen, er war unzufrieden und sagte ihm
des Morgens beim Verreisen strenge: »Sie sind ein Petschenjeg, mein
Herr!« Von ihm stammte das »Petschenjegengut«, dieser Spitzname
befestigte sich noch mehr, als Schmuchins Kinder herangewachsen
waren und Attaquen auf die benachbarten Gärten und Gemüsebeete
unternahmen. Und den Iwan Abramitsch selbst nannte man »Wissen
Sie«, da er gewöhnlich sehr viel sprach und dieses »Wissen Sie« oft
gebrauchte.
Im Hof beim Stalle standen Schmuchins Söhne: der eine war
neunzehnjährig, der „zweite noch ein Knabe, sie waren beide barfuss,
ohne Hut; gerade als der Wagen in den Hof einfuhr, warf der
jüngere eine Henne hoch in die Luft, sie gackerte und flog auf, indem
sie einen Bogen machte; der ältere schoss aus einer Flinte und die
Henne fiel todt auf die Erde.
— Das sind die Meinigen, die auf dem Flug schiessen lernen,
— sagte Schmuchin.
Im Vorzimmer empfieng die Angekommenen eine kleine, schmäch-
tige Frau mit blassem Gesicht, sie war noch jung und hübsch; der
Kleidung nach konnte man sie für einen Dienstboten halten.
— Und das ist, erlauben Sie Ihnen vorzustellen — sagte
Schmuchin — die Mutter meiner Jungen. Nun, Ljubow Ossipowna —
wandte er sich an sie — tummle Dich, Mutter, bewirte den Gast.
Gib das Nachtmahl! Flink!
Das Haus bestand aus zwei Hälften; in der einen war der
»Salon« und daneben das Schlafzimmer des alten Schmuchin —
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 659, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0659.html)