Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 673

Der Petschenjeg (Tschechow, Anton)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 673

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ENGLÄNDER U. FRANZOSEN I. D. JUBILÄUMS-KUNSTAUSSTELLUNG 673

hat, nachdem sie unter dem strengen Regime Davids für alle Zeiten
verbannt zu sein schien. Die warmen Reize des nackten Frauenleibes
sind seit der Zeit der alten Venezianer vielleicht nie mit solchem
Raffinement in Farbenglut und Lichtwirkung dargestellt worden als
bei Henner. Er kennt alle die heimlichen Töne, die sich aus dem
Dunkel des Hintergrundes loslösen bis in die wärmsten Reflexe der nackten
Haut und in ihrem üppigen Farbenzauber die beredteste Sprache des
Fleisches sprechen. Die Dämmerung und »Le Nu«, das ist die Devise
von Henners Kunst, und sie ist ebenso eine Tochter der grossen
„terre“, wie der rücksichtslose Naturalismus Millets.

Welchen riesigen Umfang diese Richtung nach Henner ge-
nommen hat, ist bekannt, und alle die zahllosen Maler, die lediglich zum
Zwecke der Pikanterie alljährlich die Wände der Salons mit weib-
lichen Acten von sehr verschiedenem künstlerischen Wert übersäen,
stehen ausnahmslos auf seinen Schultern. Einer von ihnen, Collin, der
hauptsächlich durch den weichen Schmelz der Farbengebung und
seine fehlerhafte Zeichnung hervorragt, hat auch bei uns ausgestellt.
Sein kleines Bild hängt in dem Saale der Engländer und ist von
untergeordneter künstlerischer Bedeutung.

Wenn man von diesen älteren Richtungen den Schritt zu den
modernsten im Künstlerhause vertretenen Franzosen thut, den so-
genannten »Neuidealisten«, wird man zuerst ganz rathlos dastehen.
Wie hängen diese Neuen mit den Älteren zusammen? Ist das über-
haupt noch dieselbe Kunst, dasselbe Volk, das wir da vor uns haben?
Puvis de Chavannes, Jean Aman, was haben die mit jenen anderen
zu thun? Nichts, einfach nichts. Und das ist auch wahr und erklärt
sich wieder daraus, dass die französische Kunst eben überhaupt kein
organisches Ganzes ist wie die englische. Puvis de Chavannes, der
abstracte Hellenist, hat mit den übrigen gar nichts gemein, er ist
eine Erscheinung für sich allein. Und Jean Aman, der dieses mystische,
fleischlose Mädchen im weissen Kleide ausgestellt hat, ist von den
englischen Präraphaeliten und dem discreten Farbensymphonisten
Whistler weit mehr abhängig, als von seinen eigenen Landsleuten.
Das sind eben Ausnahmen, wie es solche ja auch in England gibt,
und der Unterschied ist nur der, dass die englischen Ausnahmen eben
wirklich nur ausnahmsweise vorkommen, während sie in der fran-
zösischen Kunst zu Richtungen ausgewachsen sind, die sich an Be-
deutung ebenbürtig neben die echt französische stellen können.

Wie diese echt französische Richtung aussieht, das können wir
im Künstlerhause ganz gut verfolgen, und zwar zunächst an dem
grossen Bilde von Rochegrosse. Rochegrosse gehört mit dem älteren
Toudouze, dem Maler von »Sodoms Ende« und dem heissblütigen
Coloristen Regnault in eine Kategorie. Die Einflüsse, die auf diese
Gruppe von Künstlern gewirkt haben, gehen einerseits auf Delacroix
zurück, andererseits auf die spätere Generation der Nacktmaler, von
denen sie besonders die virtuose Behandlung des Fleischtones gelernt
haben, die ja eine von Rochegrosses stärksten Seiten bildet. Delacroix’

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 673, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0673.html)