Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 674
Text
Erbtheil ist bei Rochegrosse nach den grossen Triumphen, die er mit
seinen Bildern »la mort de Césare« und »la chute de Babylone«
gefeiert hat, zu theatralischer Pose erstarrt, und jeder unparteiische
Besucher der Ausstellung wird sich sagen müssen, dass in dem kleinen,
gleichnamigen Bilde von Leempoels, wo man von den Menschen
nichts als die Hände sieht, viel mehr und viel Stärkeres gesagt ist
als in dem von Rochegrosse, wo riesige Flächen und eine Menge
ganzer Menschenleiber über die Mattigkeit des Temperaments vergeblich
hinwegzutäuschen suchen. Aber eines bleibt doch über, wenn auch
das Können fehlt, das grosse Wollen nämlich, und die ausgesprochene
Richtung, nach der dieses Wollen liegt, lässt uns auch den richtigen
Weg in das grosse Labyrinth der modernsten französischen Kunst
finden. Das Leben der grossen »terre« ist zum wilden Leben der
Sinne, der entfesselten thierischen Leidenschaften geworden. Baudelaires
glühende Phantasien kommen aus diesen Sinnen, sie sind nichts als
ein Rausch, und dieser Rausch bleibt in den Nerven, ohne je den Weg
zur grossen, verklärten Ekstase eines Burne-Jones zu finden.
Die Maler der französischen Moderne stehen diesem Sinnen-
rausch verschieden gegenüber. Entweder sie leben ihn selbst durch
in unbewusstem Naturdrange, wie der grosse Farbenorgiast Besnard,
oder sie treten speculativ an ihn heran, studieren ihn, lernen seine
Geheimnisse wie Ärzte, und was sie dann schaffen, ist gemalte Philo-
sophie. Ein Künstler dieser Art ist Henri Martin. Sowohl Besnard als
Martin sind im Künstlerhaus vertreten, aber durch Bilder, die uns von
ihrer Kunst so gut wie gar nichts sagen. Martin hat einen Frauenkopf
»Studie« ausgestellt, aus dem man gerade nur entnehmen kann, dass
er in der Technik der Pointillisten arbeitet, und von Besnard haben
wir in der Secession mehr und Bedeutenderes gesehen und können
also füglich auf das kleine Bild im Künstlerhaus verzichten.
Dagegen möchte ich auf ein Bild von Jean Veber aufmerksam
machen, das im Saale der Engländer nahe bei dem Collins hängt.
Veber gehört mit Martin zu den speculativen Künstlern, den Maler-
philosophen, und zwar ist er von allen vielleicht der rücksichtsloseste.
Das kleine Bild im Künstlerhause sagt aus sich selbst heraus allerdings
ebenso wenig als das Martins, aber man wird es an der Hand eines
anderen Bildes verstehen lernen, das der Künstler vor zwei oder drei
Jahren in Paris ausgestellt hat. Dieses andere Bild trägt den Titel
»l’homme aux poupées« und stellt einen blassen, modern gekleideten
Mann vor, der in sich zusammengesunken auf einem Divan sitzt und
in seinen zitternden Händen eine staubige Puppe hält, die ihn mit
einem Faden erwürgt. An der Wand hängen andere Puppen, Todten-
köpfe. Darunter, und am Boden liegt eine zerbrochene, die eine betende
Frau mit Heiligenschein vorstellt. Und der Mann starrt mit fiebrig-
glühenden Augen auf die Puppe, die ihn erwürgt, die Puppe ist ja
seine Passion, seine Illusion, wie’s auch die andere war, die jetzt zer-
brochen am Boden liegt. Wird die Puppe den Mann erwürgen, oder
wird der Mahn die Puppe zerdrücken in der heissen Glut seines
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 17, S. 674, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-17_n0674.html)