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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 697

Text

PANISCUS. 697

Du bist des jungen Windes, bist der Wasser
Rauschen und Rieseln, bist duftiger Wiesen,
lichter Birken Hauch, des Laubes Flüstern.
Du liebst der Wogen keuschen Schwesterkuss;
bist Du allein mit ihnen, trägst Du wohl
ein Silberschuppenkleid, dass enger sich
an ihre Brüste schmiegt und glatter
von einer zu der anderen gleiten lässt.
Wie süss muss Eure Wollust sein und doch
niemals gesättigt wogt sie fort und fort
von Kuss zu Kuss in unerfülltem Hoffen;
bis ihr vielleicht im Rosenlicht des Abends
die Kniee eines Tritons sanft bespült,
der auf dem Felsen an der Pforte wacht
des hellen Meeres, das den Strom empfängt.
Vielleicht, dass er die Muschel sinken lässt
und eine aus der Wogenschar erkiest,
an seine Seite zieht und auf der Klippe
sich ihr vermählt; der Sterne Hochzeitsfackeln
leuchten dem rauhen Bett aus nassem Schilf
und ihrer kalten Küsse matter Lust.

Ich aber bin der Erde tiefe Glut,
der Stämme Wucht, des trockenen Laubes Rascheln,
der rauhen Gräser und gezweigten Farren
üppige Finsternis, wo rother Schwämme
und dunkeler Käfer grüne Brut gedeiht.
Ich bin das Auge stehender Gewässer,
ich berge in dem warmen, dunkeln Schoss
seltsam verschlungene Pflanzen, seltsam
verchlungenes Gethier; ein schwarzes Wasser
deckt meine Tiefen, doch der Morgenwind
vermag auf meiner Fläche sanfte Ringe
zu regen, leichter Wellen zartes Zittern
dies ist mein Lächeln Weck es, Aglaë!

Sieh, wie die Blumen sich zum Lager breiten,
die purpurnen, die dicht behaart zu mir
sich wenden, aber die zu Dir sich neigen,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 18, S. 697, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-18_n0697.html)