Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 719

Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 719

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AUFZEICHNUNGEN ÜBER DEN AMERIKANISCHEN BÜRGERKRIEG 719

Zeitalter, alt oder neu, dem politischen Fortschritt und der Demokratie
gewährt wurde. Es war nicht nur um das, was zur Oberfläche kam,
— obwohl auch das bedeutungsvoll war — sondern um das, was es
in den Tiefen andeutete — und was von ewiger Bedeutung war.
Tief in den Abgründen der Menschheit in unserer Neuen Welt hatte
sich ein primärer Hartboden von nationalem Willen zur Einheit
geformt und gefestigt, ein sehr bestimmter Wille, der die Majorität
hatte, der sich nicht reizen, noch sich etwas abstreiten liess, der allen
Ereignissen trotzte und zu jeder Zeit die oberflächlichen Bande zu
sprengen und wie ein Erdbeben auszubrechen fähig war. Es ist in
der That die beste Lehre des Jahrhunderts, und ein grosses Glück,
daran theilgenommen zu haben. (Zwei grosse Schauspiele, unsterbliche
Proben demokratischen Wesens, unerreicht in der ganzen Geschichte
der Vergangenheit hat uns der Secessionskrieg geboten — eines am
Anfang, das andre bei seinem Ende. Das ist der allgemeine, freiwillige,
bewaffnete Aufsturm und das friedliche und harmonische Auseinander-
gehen der Armeen im Sommer 1865.)

Verächtliche Empfindungen.

Selbst nach dem Bombardement von Sumter wurde indessen der
Ernst des Aufstandes, die Macht und der Wille der Sclavenstaaten zu
kräftigem und fortgesetztem kriegerischen Widerstand gegen die
nationale Autorität im Norden, mit wenigen Ausnahmen keineswegs
begriffen. Neun Zehntel der Bevölkerung der freien Staaten sah auf
die Rebellion, sowie sie in Süd-Carolina ausbrach, mit einem Gefühl
halb von Verachtung und halb von Ärger und Unglauben herab.
Man glaubte nicht, dass Virginia, Nord-Carolina oder Georgia sich
ihr anschliessen würden. Ein bedeutender und vorsichtiger nationaler
Beamter prophezeite, dass sie »in sechzig Tagen« ausgepustet haben
würde; und die meisten Leute glaubten dieser Prophezeiung. Ich
erinnere mich, dass ich in einem Fulton-Überfuhrboot mit dem Bürger-
meister von Brooklyn darüber sprach, der mir sagte, »er hoffe nur,
die Feuerfresser im Süden würden irgend einen Act offener Wider-
setzlichkeit begehen, denn dann würden sie mit einemmal ordentlich
niedergebügelt werden, und wir von der Secession nie wieder was
hören — aber er fürchtete, sie würden nie die Schneidigkeit haben,
wirklich was zu thun«. Ich erinnere mich auch, dass ein paar Compagnien
vom 13. (Brooklyner) Regiment, die sich im städtischen Arsenal
formierten und von dort auszogen, wie Leute, die für dreissig Tage
zur Waffenübung einrücken, alle mit Seilen versehen waren, die sie
auffällig an ihre Gewehrläufe gebunden hatten, und an welchen jeder
Mann einen Gefangenen aus dem »frechen Süden« mitbringen wollte,
die sie bei der erwarteten raschen und triumphierenden Heimkehr in
der Schlinge aufzuführen gedachten!

Schlacht von Bull Run. Juli 1861.

All diese Empfindungen sollten durch einen schrecklichen Schlag
abgebrochen und in ihr Gegentheil verkehrt werden; die erste Schlacht

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 719, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0719.html)