Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 720
Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)
Text
von Bull Run, sicherlich, wie wir sie jetzt kennen, eines der eigen-
tümlichsten Treffen, die sich je ereignet haben. Alle Schlachten und
ihre Resultate sind weit mehr Sache des Zufalls, als man gewöhnlich
annimmt, aber diese war durchaus eine Zufälligkeit, ein Glückswurf.
Jeder Theil glaubte, er hätte gesiegt, bis zum letzten Augenblick. Und
den Thatsachen nach hatte einer genau so viel Recht, geschlagen zu
sein, wie der andere. Infolge einer Einbildung oder vielmehr einer
ganzen Reihe von Einbildungen brach unter den nationalen Streit-
kräften im letzten Augenblick eine Panik aus und sie flohen vom
Schlachtfeld. Bei Tagesanbruch am Montag d. 22. begannen die
geschlagenen Truppen über die Lange Brücke in Washington einzu-
strömen, einem Tag, an dem von früh bis abend der Regen herab-
rieselte. Der Samstag und Sonntag der Schlacht (20. u. 21.) waren
ungewöhnlich heiss und trocken gewesen — der Staub, der Schmutz und
Rauch hatte ihre Kleider ganz überstäubt mit dem die Luft erfüllenden
Lehmstaub, der überall auf den trockenen Strassen und niedergetretenen
Feldern von den Regimentern, dem Fuhrwerk und der Artillerie auf-
gewirbelt wurde — all die Mannschaften mit dieser Kleiderkruste von
Schmier und Schweiss und Regen, alle zurückweichend und über die
Lange Brücke hereinströmend — nach einem schaudervollen Marsch
von 20 Meilen nach Washington zurück, enttäuscht, gedemüthigt,
schreckengeschlagen. Wo sind die Prahlereien, das stolze Rühmen, mit
dem ihr auszogt? Wo sind eure Banner, eure Musikbanden, eure Seile, mit
denen ihr die Gefangenen bringen wolltet? Keine einzige Bande spielt und
keine Flagge, die nicht beschämt und matt am Schaft kleben würde.
Die Sonne geht auf, aber sie scheint nicht. Die Leute zeigen
sich, zuerst einzeln und mit schamvollen Gesichtern, dann dichter in
den Strassen von Washington — erscheinen in der Pennsylvania-Avenue,
auf den Stufen, in den Thorwegen. Sie kommen in unordentlichen
Massen, einige in Rotten, andere vereinzelt, andere in Compagnien.
Hie und da ein einzelnes Regiment in vollkommener Ordnung mit
seinen Officieren (einige Lücken von Todten, wirklichen Tapfern) in
schweigendem Marschtempo, mit düstern Gesichtern, ernst, müde zum
Umfallen, alle schwarz und schmutzig, aber jeder Mann mit seinem
Gewehr und elastisch schreitend; aber das sind Ausnahmen. Die
Seitenstrassen der Pennsylvania-Avenue, die 14-Strasse, etc. gedrängt,
gepresst voll mit Bürgersleuten, Negerlein, Beamten, aller Welt als
Zuschauern; Weiber in den Fenstern; seltsamer Ausdruck der Gesichter,
während diese Schwärme von Schmutz bedeckten zurückgekommenen
Soldaten (werden sie denn nie ein Ende nehmen?) vorbeiziehen;
aber nichts wird gesprochen, keine Commentare (die Hälfte der
Zuschauer, Secessionisten der giftigsten Art, sagen kein Wort,
aber der Teufel kichert in ihren Gesichtern). Während des Vormittags
wird ganz Washington buntgescheckt von diesen besiegten Soldaten,
— seltsam anzuschauen, sonderbare Augen und Gesichter, triefend
(den ganzen Tag rieselt der Regen fort), furchtbar ermüdet, hungrig,
hager, mit wunden Füssen. Gute Menschen (es sind ihrer aber
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 720, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0720.html)