Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 721

Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 721

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AUFZEICHNUNGEN ÜBER DEN AMERIKANISCHEN BÜRGERKRIEG. 721

nicht zu viele) scharfen eilig etwas zu ihrer Stärkung her. Sie setzen
Waschkessel mit Suppe und Kaffee ans Feuer. Sie stellen Tische in
den Seitenstrassen auf. Wagenladungen von Brot werden gekauft,
schnell in tüchtige Stücke geschnitten. Hier zwei alte Damen, wunder-
schön, die ersten der Stadt an Bildung und Anmuth — sie stehen
mit Vorräthen von Speisen und Getränken an einem improvisierten
Tisch von rauhen Brettern und vertheilen Nahrung, alle halbe Stunde
lassen sie ihren Vorrath von ihrem Haus nachfüllen, stehen im Regen
den ganzen Tag, thätig, schweigend, weisshaarig, und vertheilen Nahrung,
während ihnen die Thränen fast unaufhörlich über die Wangen rinnen.
Inmitten der tiefen Erregung der Menge, der Bewegung, dem verzweifelten
Eifer, ist es seltsam zu sehen, wie viele, sehr viele der Soldaten schlafen,
inmitten des ganzen Wirrwarrs gesund schlafen. Überall fallen sie hin,
an den Thorstufen, an den Häusermauern und Gittern, in den Seiten-
gassen, an irgend einer freien Stelle und sinken in tiefen Schlaf. Ein
armer Junge von sechzehn oder achtzehn Jahren liegt da im Thorweg
eines eleganten Hauses, schläft so ruhig und so tief. Einige halten
ihre Gewehre fest, selbst im Schlaf. Einige liegen in Rotten, Kameraden,
Brüder, dicht beisammen, und auf sie, während sie daliegen, träufelt
mürrisch der Regen herab.

Da der Nachmittag vergeht und der Abend kommt, sind die
Strassen, die Gassenschänken überall voll, überall Gruppen, Zuhörer,
Fragesteller, Schaudermären, Durcheinanderreden, »gedeckte Batterien«,
»unser Regiment ganz vernichtet« etc. — Geschichten und Geschichten-
erzähler, windig, prahlerisch, eitle Mittelpunkte von Strassengruppen.
Entschlossenheit und Männlichkeit scheinen aus Washington gewichen
zu sein. Das erste Hotel, Willard, ist voll von Epauletten-Trägern!
(Ich sehe sie und hab ein Wort mit ihnen zu reden. »Da seid ihr
ja, Epauletten-Träger! — aber wo sind eure Compagnien? wo sind
eure Mannschaften? Unfähiges Volk! Redet mir nicht von Zufällen, vom
Abgeschnittenwerden und dergleichen! Ich meine, es ist am Ende doch
euer Werk, dieser Rückzug, durchaus das Eure! Ihr mögt euch beiseite
schleichen oder euch aufspielen, und euch ein Air geben hier in
Willards prächtigen Salons und Speisezimmern, oder wo ihr wollt —
keine Erklärung wird euch rechtfertigen, Bull Run ist euer Werk;
wäret ihr nur zur Hälfte und ein Zehntel eure Mannschaften wert
gewesen, das wäre nie geschehen!«).

Unterdessen in Washington, unter den hochgestellten Personen
und in ihrer Umgebung, ein Gemisch von schrecklicher Consternation,
Ungewissheit, Wuth, Scham, Hilflosigkeit und betäubender Enttäuschung.
Das Schlimmste ist nicht nur bevorstehend, es ist schon da. In wenigen
Stunden, vielleicht noch vor der nächsten Mahlzeit, sind die secessionisti-
schen Generale mit ihren siegreichen Horden über uns. Der Traum
der Menschheit, die gepriesene Union, die wir für so stark, so un-
bezwinglich hielten — seht! — sie scheint bereits zerdrückt wie eine
Blechschüssel. Eine bittere, bittere Stunde — vielleicht wird das stolze
Amerika nie wieder eine solche Stunde durchmachen. Einpacken und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 721, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0721.html)