Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 722

Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 722

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722 WHITMAN.

fliehen — es ist keine Zeit zu verlieren! Diese weissen Paläste, das
kuppelgekrönte Capitol auf dem Hügel, das so stattlich über die Bäume
herabschaut — sollen sie zurückgelassen oder sollen sie zuerst zerstört
werden? Denn das ist gewiss, dass unter gewissen Magnaten und
Officieren, Beamten und Schreibern allenthalben in und um Washington
durch die ersten 24 Stunden nach Bull Run laut und unverhüllt die
Rede gieng, dass man gänzlich nachgeben und das südliche Regime
einführen, Lincoln aber augenblicklich abdanken und abreisen müsse.
Wenn die secessionistischen Officiere und Truppen augenblicklich gefolgt
wären, und mit einem kühnen Napoleonischen Zug am ersten Tag
(oder selbst noch am zweiten) in Washington eingerückt wären, sie
hätten das Heft in die Hand bekommen und eine mächtige Partei im
Norden hätte sie noch unterstützt. Einer unserer heimgekehrten Obersten
sprach in dieser Nacht öffentlich inmitten einer Schar von Officieren
und Herren in einem dichtgefüllten Räume die Meinung aus, dass es
nutzlos sei, weiterzukämpfen, dass die Südländer ihr Recht deutlich
erwiesen hätten, und dass der beste Weg, den die nationale Regierung
einschlagen könnte, der wäre, von jedem weitern Versuch, sie aufzu-
halten, abzulassen und ihnen unter so günstigen Bedingungen, als von
ihnen eben zu erreichen wären, wieder die Führung zu überlassen.
Nicht eine Stimme in dieser grossen Zahl von Officieren und Herren
erhob sich gegen dieses Urtheil. (Thatsache ist, die Stunde war
eine von den drei oder vier Krisen, die wir damals und nachher
während der Fluctuationen dieser vier Jahre durchzumachen hatten,
in denen Menschenaugen mit ebensoviel Wahrscheinlichkeit den letzten
Athemzug der Union wie ihren Fortbestand zu sehen, erwarten konnten.)

Die Betäubung geht vorüberetwas anderes beginnt.

Aber die Stunde, der Tag, die Nacht giengen vorüber, und was
auch wiederkehren mag, eine Stunde, ein Tag, eine Nacht wie diese
kann nie wieder kommen. Der Präsident gewinnt seine Fassung wieder
und ernst und rasch geht er an die Arbeit, seine Streitkräfte zu
reorganisieren, und sich in die geeignete Position für künftiges und
sichereres Vorgehen zu setzen. Wenn die Geschichte nichts anderes
von Abraham Lincoln wüsste, um sein Bild der Nachwelt einzuprägen,
es wäre genug, ihn mit diesem einen Kranze ins Gedächtnis aller
künftigen Tage zu bringen, dass er diese Stunde und diesen Tag
ertrug, die bitterer waren als Galle, diesen wahren Kreuzigungs-Tag,
— dass dieser Tag ihn nicht bezwang, dass er ihm ohne zu zucken
die Stirn bot und entschlossen daran gieng, sich und die Union
darüber zu erheben.

Dann erschienen sogleich die grossen New-Yorker Blätter (schon
vom ersten Abend an, am nächsten Morgen und ohne abzulassen
durch so manche Tage) mit Leitartikeln, die über das Land klangen,
mit lauten, wiederhallenden, klaren Hifthorntönen, voll Ermuthigung,
Hoffnung, Begeisterung, furchtlosem Trotz. Sie waren wirklich gross-
artig, diese Redactionen, nicht für eine Woche verloren sie den Muth.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 19, S. 722, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-19_n0722.html)