Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 814

Aus den Aufzeichnungen über den amerikanischen Bürgerkrieg (1861—64) (Whitman, Walt)

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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 814

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814 WHITMAN.

liegen auf der Erde, ein Glück, wenn ihre Leintücher auf Lagerstätten
von Pinienreisern oder den Zweigen der Schierlingstanne oder Laub
gebreitet sind. Keine Bettstätte, selten eine Matratze. Es ist hübsch
kalt. Der Boden ist hart gefroren, hie und da Schnee. Ich gehe herum
von einem zum andern. Ich finde nicht, dass ich diesen Wunden und
Sterbenden viel Gutes thun kann, aber ich kann sie nicht verlassen.
Da oder dort fasst ein Junge mich convulsiv und hält sich an mich,
und ich thu’ für ihn, was ich kann, wenigstens bleib’ ich bei ihm,
sitze bei ihm stundenlang, wenn er es wünscht.

Ausser den Spitälern gehe ich gelegentlich auf lange Runden
durch die Lager, plaudere mit den Leuten etc. Sitze hie und da bei
Nacht unter den Gruppen um die Feuer in ihren Shebang-Gehegen
aus Sträuchern. Es sind eigenthümliche Scenen, voll von Charakteren
und Gruppenbildern. Ich werde bald überall im Lager bekannt, mit
Officieren und Leuten, und man begegnet mir immer freundlich. Mit
den Regimentern, die ich am besten kenne, geh’ ich manchmal auf
Feldwache. Was die Nahrung anbelangt, so scheint die Armee hier
gegenwärtig erträglich verproviantiert zu sein und die Leute haben
genug — von dem, was sie kriegen: hauptsächlich gepöckeltes
Schweinefleisch und harten Käse. Die meisten Regimenter campieren
in den ärmlichen, kleinen Schutzzelten. Einige wenige haben sich
Hütten aus Balken und Lehm mit Feuerstätten erbaut.

Fünfzig Stunden verwundet auf dem Feld.

Hier ein Fall eines Soldaten, den ich unter den dichtgedrängten
Betten im Patentamt fand; er freut sich, wenn er jemanden hat, mit
dem er plaudern kann, und wir wollen ihm zuhören. An jenem
ereignisreichen Samstag, den 13. December, vor Fredericksburg wurde er
schlimm in Schenkel und Hüfte getroffen. Die zwei folgenden Tage
und Nächte lag er hilflos auf dem Feld zwischen der Stadt und den
grimmigen Terrassen von Batterien; seine Compagnie und Regiment
waren gezwungen, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Die Sache
wurde noch schlimmer dadurch, dass er mit dem Kopf ein wenig
nach abwärts zu liegen gekommen war und sich selbst nicht anders
legen konnte. Nach etwa fünfzig Stunden wurde er mit anderen
Verwundeten unter einer Waffenstillstands-Flagge vom Feld getragen.
Ich fragte ihn, wie ihn die Rebellen während dieser zwei Tage und
Nächte, die er in ihrem Bereiche lag, behandelt hätten, ob sie zu
ihm gekommen waren, ob sie ihn misshandelten? Er antwortete, dass
mehrere Rebellen, Soldaten und andere, zuzeiten zu ihm kamen.
Ein paar, die beisammen waren, sprachen rauh und sarkastisch, thaten
aber nichts Schlimmeres. Ein Mann von mittleren Jahren indessen, der
im Feld unter den Todten und Verwundeten in guten Absichten umher-
zugehen schien, kam zu ihm in einer Weise, die er nie vergessen
wird; er behandelte unseren Mann in gütiger Art, verband seine
Wunden, sprach ihm Muth zu, gab ihm einige Biscuits und einen
Trunk von Whisky und Wasser, fragte ihn, ob er etwas Fleisch

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 21, S. 814, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-02-21_n0814.html)