Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 59
Text
Als müsst’ ich plötzlich, wie die Kerze lischt,
Ihr Leben mir im Arm auslöschen seh’n.
So grauenvoll ist, wenn man es bedenkt,
Das Leben. Also jetzt muss ich hingehen
Und diese Todte da begraben. Ihr
Bleibt nur indessen, lasst sie nicht allein
Und singt ein frommes Lied dem Gott, den Flehen
Nicht rührt. Doch ganz Thessalien, soweit
Mein Speer gebietet, trauere mit mir!
Die süssen Flöten, die sie aus dem Holz
Des Lotosbaumes schneiden, sollen schweigen.
Ich will nicht, dass sie mich vergessen lehren!
(Er geht ins Haus. Die Frauen schmücken die Leiche und bahren sie rechts unter dem
vor-
springenden Dache auf. Die Männer treten in den Hintergrund.)
Der kleine Eumelos.
Was legten sie die Mutter auf die Trage?
Kann sie denn nicht mehr geh’n, hat sie’s verlernt?
Was zieh’n sie ihr die schönen Kleider an?
Was geben sie ihr gold’ne Spangen um?
Ist doch kein Fest!
(Die alte Sclavin nimmt ihn auf den Schoss und redet mit ihm leise.)
Der kleine Eumelos.
Ein fremder Mann? Wann bringt er sie denn wieder?
Die älteren Frauen (an der Bahre).
Es pflücken die Menschen die Früchte des Lebens,
Die Wunder der Weite, die Wunder der Nähe.
Sie lassen den Wind ihre Schiffe treiben,
Sie saugen den Zauber der Töne aus Flöten
Und Königsgedanken aus Träumen der Nacht.
Sie fahren im hohen Wagen des Lebens
Mit stolzen Stirnen den Wunderweg,
Da springt gegen sie mit eichener Keule
Und schlägt sie nieder das stumme Geschick.
Die jüngeren Frauen.
Wir dürfen nicht fragen, wir können’s nicht fassen!
O brechet die Früchte umschlingt einander,
Beladet mit Leben die wandernden Stunden,
Mit funkelnden Blumen, weissäugigen Steinen,
Mit Lachen und Liebe, mit Herrschaft und Lust!
Was frommen die duftenden gold’nen Sandalen
Was frommen die Spangen, was frommen die Blumen,
Um nieder ins Dunkel zu folgen dem Tod?
(Sclavinnen heben die Bahre auf und der Zug geht singend, von allen Frauen geleitet,
durch
die gewölbten Gänge rechts vorne langsam ab.)
(Bewegung. Wachsende Unruhe.)
Einer oder mehrere rufen.
Er ist es! Von Nemea ist’s das Fell!
Die Keule ist’s! Der Held Herakles ist’s!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 3, S. 59, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-03_n0059.html)