Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 92

Tod, Reincarnation und Seelenwanderung (Fortsetzung und Schluss) (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 92

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HARTMANN: TOD, REINCARNATION UND SEELENWANDERUNG.

gleichbar mit einem Lichtstrahl, der von
der göttlichen Lebenssonne der Weisheit,
der Quelle alles Daseins kommt. Die
persönliche Erscheinung des Menschen auf
Erden, mit ihrem Fühlen und Denken,
ist das Dunkel, in welches dieser Licht-
strahl scheint. Die Sonne wird nicht im
Menschen verkörpert; das Beschränkte
kann das Unendliche nicht in sich auf-
nehmen; aber die Form wird vom Lichte
der Sonne erleuchtet, und diese Sonne ist
das göttliche Wesen des Menschen selbst.
Je mehr sich der Mensch der göttlichen
Sonne, welche die Quelle seines Daseins
ist, nähert, umsomehr wird er von ihrem
Lichte erleuchtet; je mehr dieses Licht
in ihm leuchtet, umsomehr geht die Sonne
der Weisheit in ihm auf, umsomehr nähert
sich ihm die Gottheit und bringt ihn
näher zu sich. Je mehr er sich von dieser
Quelle des geistigen Lebens entfernt, sich
in seine Eigenheit vermauert und sich
von seiner Phantasie und Sinnlichkeit ge-
fangen nehmen lässt, umsomehr entfernt
er sich von seinem göttlichen Dasein und
Bewusstsein, verliert sich im Dunkel der
Nichterkenntnis des Wahren und im Nebel
der Täuschung, und verliert seine Freiheit,
denn nur die Erkenntnis des Wahren
macht uns in Wahrheit frei vom Irrthum
und von den Banden des Selbstwahns und
Egoismus mit den daraus entspringenden
Begierden und Leidenschaften.

Alles, was nun bisher gesagt wurde,
hat keinen Zweck, wenn nicht dadurch
klar geworden ist, dass der innere geistige
Mensch ein Gott, und in seinem innersten
Wesen die Gottheit selber ist; wenn er
auch persönlich nichts davon weiss; während
die Persönlichkeit des Menschen mit allen
ihren Errungenschaften nur eine Summe
von zu einem Organismus vereinigten
Kräften ist, welche dem göttlichen Menschen,
der sowohl in uns als ausser uns und
über uns ist, als Werkzeug und auch theil-
weise als Wohnort oder Tempel dient.
So wurzelt auch ein Baum im Erdboden
wie der himmlische Mensch im Materiellen,
aber die Wurzel ist nicht der Baum, der
sich über dem Boden erhebt und dessen
Zweige und Blätter die Luft und das
Licht gemessen. Ein christlicher Mystiker,
Erzbischof Ekhart von Köln sagt: »Es
ist viel richtiger zu sagen, der Mensch sei

in der Seele, als dass die Seele im Menschen
sei.« Der Mensch selber ist Seele; die
Persönlichkeit nur ein Schatten, eine Maske
oder Larve. Die Seele eines wirklichen
Menschen ist viel grösser als seine Persön-
lichkeit, aber es gibt auch menschenähn-
liche Larven, die sehr klug sind und
immer Recht haben wollen, in denen aber
keine Seele zu finden ist.

Wer sich davon überzeugen will, dass
der physische Körper nur eine Erscheinung
ist, der bedarf dazu keines äusserlichen
Beweises. Er braucht nur den geistigen
Blick nach Innen zu wenden und in sich
selbst hineinzuschauen, und er findet die
Unendlichkeit in sich selbst. Gerade so,
wie er, wenn er zum Himmel emporblickt,
keine Grenze finden kann, wo der unend-
liche Raum ein Ende nimmt, so findet er
auch in der Tiefe seines Gemüthes keinen
Grund, und wie der Raum ohne das Licht
dunkel und wesenlos erscheint, so ist die
Seele in unserem Innern leer ohne das
Licht der Erkenntnis. Gott ist die unend-
liche Einheit, die Erkenntnis Gottes das
Licht. Der Mensch ist das Nichts oder
die Null. Erst wenn die Eins zur Null
tritt, erlangt die Null als Zehn ihren Wert.
Der himmlische Mensch ist aus dem
Lichte geboren, der irdische Mensch aus
dem Dunkel. Das Dunkel kann sich mit
dem Lichte nicht verbinden; aber wenn
es vom Lichte durchdrungen wird, so ver-
schwindet die Dunkelheit. Wird der Mensch
vom Gottesbewusstsein durchdrungen, so
erkennt er seine eigene wahre Gottesnatur.
Dann ist er aber auch nicht mehr das-
jenige, was die rationelle »Wissenschaft«
unter dem Worte »Mensch« versteht,
sondern ein über jene Zustände, welche
man »Tod« und »Leben« nennt, er-
habenes Wesen.

Nicht nur die göttliche Seele des
Menschen, sondern auch sein Geist oder
Intellect (Manas) ist viel grösser als sein
Körper; denn auch der Geist ist nicht im
Schädel eingeschlossen, sondern benützt
das Gehirn als ein Werkzeug zum Denken.
Kein Mensch ist sich in einem einzigen
Augenblicke alles dessen bewusst, was er
gelernt hat und weiss. Aus der Schatz-
kammer des Geistes fliessen die gesam-
melten Ideen und werden vermittels des
Gehirns zu Gedanken und Vorstellungen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 92, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0092.html)