Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 93

Tod, Reincarnation und Seelenwanderung (Fortsetzung und Schluss) (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 93

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HARTMANN: TOD, REINCARNATION UND SEELENWANDERUNG.

geformt. Auch geht dabei das Wissen
nicht verloren, sondern dasjenige, was im
Denken offenbar geworden ist, tritt wieder
in das Nichtoffenbare zurück. Das Nicht-
offenbare wird von manchen das »Un-
bewusste« genannt. Dies ist dahin zu
verstehen, dass es der Persönlichheit un-
bewusst ist; dem Geiste ist es nicht un-
bewusst; denn der Geist ist das Bewusst-
sein selbst. Unser Wissen ruht in unserm
geistigen Bewusstsein; aber es kommt nur
ein Stück nach dem andern zum Bewusst-
sein unserer Persönlichkeit. Wird das Ge-
hirn gelähmt, so hört das Bewusstsein
der Persönlichkeit auf, aber der Geist und
was zu seinem Wesen gehört, wird da-
durch nicht vernichtet. Tritt der Geist
dann im Verlaufe der Wiederverkörperung
in einer andern Persönlichkeit auf, so
kann er sein Wissen wieder zum Be-
wusstsein dieser Persönlichkeit bringen.
So fliesst das innere Wissen auf dem
Wege der Intuition dem äusseren Wissen
zu; wir werden durch unseren eigenen
Geist unterrichtet, und je mehr die Per-
sönlichkeit des Menschen sich mit dem ihr
innewohnenden höheren Geiste vereinigt,
umsomehr nimmt sie an dessen Wissen
theil. Dadurch lernt der Mensch als Per-
sönlichkeit wieder dasjenige, was er in
einem früheren Leben als eine andere
Persönlichkeit erfahren und gelernt hat.

Wer dies begreift, dem beantwortet
sich von selbst die Frage, weshalb wir
uns als Personen unserer früheren Daseins-
formen auf Erden nicht erinnern können?
Die Person, welche ich jetzt vorstelle,
war früher nicht da und kann sich des-
halb auch an kein früheres Dasein er-
innern. Mein Geist, der schon zur Zeit
der Erschaffung der Welt zugegen war,
kann sich an alle Daseinsformen oder Er-
scheinungen, unter denen er auf dieser
Erde oder auf andern Planeten aufgetreten
ist, erinnern, und wenn das Bewusstsein
meines Geistes in meiner jetzigen Persön-
lichkeit völlig offenbar würde, so würde
meine Person an dieser Erinnerung theil-
nehmen. Wenn ein Haus denken könnte,
so würde es sich nicht erinnern, was für ein
Haus es war, als es noch kein Haus war;
wohl aber würde der Baumeister wissen,
was für Häuser er schon früher gebaut
und bewohnt hat.

In der That gibt es Menschen, die
hinreichend von dem höheren geistigen
Bewusstsein durchdrungen sind, um zu
wissen, was für Leiber sie in früheren In-
carnationen bewohnt, und was für Er-
fahrungen sie darin gemacht haben. So
sagt z. B. Gautama Buddha Folgendes:
»Als das Licht der Erkenntnis in mir auf-
gieng und sich das Geistesauge eröffnete,
da wusste ich, wer ich in meinem früheren
Leben war. Ich sah zurück auf eine, auf
zehn, auf hunderte und tausende meiner
Daseinsformen. Da war ich dieser oder
jener, hatte diesen und jenen Namen,
lebte und starb und wurde wiedergeboren.
Ich sah zurück auf Weltenentstehungen
und Weltenvergehungen« u. s. w. Das
Ewige im Menschen ist ewig und unver-
gänglich. Welten und Formen kommen
und gehen, das Ewige wird nie geboren
und vergeht nicht.

Wohl gibt es manche, die sich in
ihrer Eitelkeit einbilden, in einem früheren
Leben diese oder jene grosse Persönlich-
keit gewesen zu sein; aber mit solchen
Spielen der Phantasie haben wir nichts
zu thun. Dagegen findet man oft in
Kindern, deren Gemüth noch nicht durch
Irrlehren und Dogmatik verdunkelt ist,
eine Abstrahlung jenes höheren Bewusst-
seins, welches Erinnerungen an ein früheres
Dasein enthält. An dem Lichte, welches
dem unsterblichen Geiste des Menschen
angehört, entzündet sich infolge der ihm
innewohnenden Begierde nach indivi-
duellem Dasein, ein neues Licht, das Be-
wusstsein des neuerscheinenden persön-
lichen Menschen, gleichsam eine Wieder-
spiegelung des ersteren auf der Ebene
des sinnlichen Daseins.

Es ist somit von keiner »Seelen-
wanderung« die Rede, sondern von einem
Wiederzusammentreten der psychischen
Elemente, welche diejenige Summe von
Kräften darstellten, die der vorhergehenden
Erscheinung angehörten. Um diesen Vor-
gang besser zu begreifen, wird es nützlich
sein, diese Elemente in ihrer Auflösung
nach dem Tode des Körpers zu betrachten
und ihren Weg zu verfolgen:

Wenn der Geist und das Leben den
Körper verlassen hat, so gehen die Elemente
des Leichnams wieder zu der Quelle, aus
der sie gekommen sind, zurück; einerlei

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 93, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0093.html)