Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 95

Tod, Reincarnation und Seelenwanderung (Fortsetzung und Schluss) (Hartmann, Franz)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 95

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HARTMANN: TOD, REINCARNATION UND SEELENWANDERUNG.

streift hat, was nicht zu ihrem wahren Wesen
gehört, so tritt sie wieder in die Gottheit
ein, um, wenn die Begierde nach persön-
lichem Dasein sich wieder in ihr regt, aufs
neue ins Meer des Lebens einzutauchen,
wobei sie dann wieder diejenigen Elemente
anzieht, zu denen sie sich durch ihr eigenes
Wesen angezogen fühlt. Dieser Vorgang
könnte mit der Bildung einer Wolke ver-
glichen werden. Die Sonne ist der Geist;
ein Sonnenstrahl die Individualität. Durch
die anziehende Kraft des Sonnenstrahles
entsteht ein Dunst in der vorhin klaren
Atmosphäre. Es bildet sich ein Nebel, der
sich zu Wolken zusammenballt, die immer
dichter werden, bis sie Blitze und Donner
entsenden. Der Nebel fällt hernieder und, ge-
mengt mit dem Rauch und Staub der Luft,
bildet er trübes Wasser, das im Winter zu
Eis gefriert. Dies wird durch die Wärme
wieder zu seinem Ursprung zurückgeführt.
So findet fortwährend der stete Kreislauf
statt; aber der Lichtstrahl, welcher von
der Sonne kommt, verändert sich nicht;
er bleibt stets derselbe und wird nicht
verunreinigt. In dem geistigen Lichtstrahl,
der in unsere Seele scheint, finden wir
unsere geistige Individualität, und in der
Sonne, aus welcher er stammt, unser un-
endliches, untheilbares, göttliches Selbst;
die Gottheit in allem.

Nicht nur beim Tode und Wieder-
geborenwerden, sondern schon bei jedem
Einschlafen und Erwachen findet ein
solcher Eingang in Gott und Ausgang,
gleichsam eine Wiederverkörperung statt;
denn auch beim Einschlafen zieht sich
der Geist in sich selbst zurück; Vernunft
und Vorstellung schwinden, kehren aber
beim Erwachen wieder zurück. Die
»Brhad Aranyaka Upanischad« sagt
hierüber Folgendes:

»Was ist die Seele? Sie ist das Be-
wusstsein unter den Kräften des Lebens.
Sie ist im Herzen das innerliche Licht;
und dieser Geist bewegt sich von einer
Welt zur andern, bleibt aber in sich selbst
dabei ohne Veränderung. Er scheint nur
Vorstellungen zu haben; er tritt nur
scheinbar in Zustände der Freude und
des Entzückens ein.«

»Und wenn der Schlaf eintritt, so er-
hebt sich dieser Geist über diese Welt und
über die vergänglichen Formen. Wenn

der Geist zum Geborenwerden herabsteigt
und in einen Köper einzieht, so findet er
sich in Mitten von Übeln verschiedener
Art; aber wenn er beim Tode sich wieder
erhebt, so schafft er das Böse fort.«

»Der Geist des Menschen hat zwei
Wohnungen; diese Welt und die andere
(himmlische), und die dritte ist das da-
zwischen liegende Land, das Land der
Träume und der Phantasie. So lange der
Geist auf der Grenze der beiden Welten
verweilt, sieht er die beiden Welten;
sowohl diese als auch die andere. Er
ruht in derjenigen Kraft, welche er in
der anderen Welt angesammelt hat, und
schaut sowohl das Herrliche als auch
das Schreckliche.«

»Und wenn er wieder in den Schlaf
versinkt, wobei er dasjenige mit sich nimmt,
was er von dieser Welt, die alles enthält,
gesammelt hat, wobei er selbst das Bau-
holz fällt und sich selbst seine Wohnung
erbaut, so träumt er. Die Seele ist dabei
seine Klarheit, sein Licht. Somit ist die
Seele des Menschen Licht.«

Er weiss nun, dass die Nichterkenntnis
(des eigenen wahren Wesens) die Ursache
aller der Schrecken war, die er in der
Welt des Wachens gesehen hat, und
gleich einem Gotte erkennt er: Ich bin
das All, dies ist die höchste Welt.

»Dies ist die höchste Seligkeit. Er ist
in Furchtlosigkeit gekleidet und hat das
Dunkel zerstört. So wie einer, der in den
Armen der Geliebten ruht, an nichts mehr
denkt, was in ihm oder ausser ihm ist, so
ist der von der grossen Seele umfangene
und durchdrungene Menschengeist; er
kümmert sich um nichts, was in ihm
oder ausser ihm ist, denn er hat sein
Ziel erreicht. Er ist jenseits der Grenze
des Leidens angelangt.«

»Umfangen von der grossen Seele, ist
der Vater kein Vater mehr, die Mutter
keine Mutter, noch die Welt eine Welt.
Dort sind die Götter keine Götter mehr,
der Mörder kein Mörder, noch der Dieb
ein Dieb. Da existiert der Verworfene
nicht mehr als ein Verworfener, noch der
Barbar als Barbar, noch der Priester als
Priester oder der Heilige als ein Heiliger.
Weder die guten noch die schlechten
Werke folgen ihnen dorthin nach; der
Geist ist über alle Herzenssorgen erhaben.«

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 4, S. 95, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-04_n0095.html)