Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 124

Die Affaire Diefenbach (Spaun, Paul Ritter von)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 124

Text

SPAUN: DIE AFFAIRE DIEFENBACH.

Darstellung dieses Zuges ist der 70 Meter
lange Silhouettenfries. Es ist zwecklos, ein
Wort über die Meisterschaft dieses Kunst-
werkes zu äussern, das berufene Kritiker
(Hans von Wolzogen, Dr. M. A. Conrad,
Ferd. Avenarius u. a.) wiederholt gewürdigt
und dem deutschen Volke zur ernstesten
Beachtung empfohlen haben. Wir fassen
es in seinem inneren Gehalte, in seiner
Idee, welche die beseligende Verheissung
»Werdet wie Kinder und euer ist das
Paradies!« zu lebensvollster Schönheit und
Wahrheit entwickelt hat. Wie ein jubelndes
Bekennerwort strahlt es aus all seinen
Gruppen auf uns her: »Es muss doch
Frühling werden!« entgegnet Avenarius im
»Kunstwart« allen denen, welche in diesem
Meisterwerke den Ausfluss »utopistischer
Schwärmerei«, »phantastischer Hirn-
gespinste eines Verückten« erkennen wollen
und sich dadurch selbst des beglückenden
Trostes berauben, welchen diese jauchzenden
Kinderfiguren dem von dem verbrecherischen
Taumel der heutigen Lebensverhältnisse
unbefriedigt sich losreissenden, erlösungs-
schmachtenden Gemüthe spenden. Welcher
Feinfühlende leugnet das tiefe Bedürfnis
unserer Zeit nach Befreiung aus den
entwicklungshemmenden Sclavenbanden
rohesten Materialismus? Welcher Denkende
verkennt die ungeheure Tragweite der in
gedankenlosem Dahintorkeln und sinn-
lichster Lasterhaftigkeit wurzelnden Ver-
blendung der heutigen Gesellschaft, die —
das Beispiel der in sich zerfallenden Roma
ins Riesenhafte erweiternd — alles heute
Bestehende dem gewaltsamen Ende, der
»Götter« — nein! »Götzen«-Dämmerung
entgegentreibt?! Daher auf der einen Seite
ein wahnsinniges, massloses Hasten nach
Genuss des Lebens, getrieben von Todes-
angst, es zu verlieren; daher auch auf der
anderen Seite der sehnsüchtige Aufschrei
nach geistiger Erlösung, wie er aus den
Werken unserer Grössten, Ibsen, Schopen-
hauer, verzweifelnd wiederhallt und dem
einzig die Kunst Ausdruck wie Tröstung
— Bayreuth — zu geben vermochte.

Diefenbach hat dies Bedürfnis nach
beiden Seiten hin wie kein anderer empfunden
und erfasst; seine Lehre ist aus gleicher Noth
geboren und für beide ein Erlösungswort.

Dem berechtigten Drange nach Lebens-
genuss errichtet er in seinen Lehren über

die naturgemässe — »gott«vereinigte —
Lebensweise ein Felsenfundament von
Gesundheit und Kraft, welche, zu höchster
Reinheit geläutert, sich über die krank-
hafte Lasterhaftigkeit des heutigen Genuss-
menschen zu edelster, freiester Lebens-
empfindung ergänzen und dem hierdurch
allein gesund befriedigten physischen
Menschen zum Aufschwunge in die lich-
testen Höhen des Geistes- und Seelenlebens
befähigen. Auf diesem Fundamente baut
er die Ideale einer höheren, menschheit-
lichen Cultur auf, die, im Gegensatze zu
der in Unnatur faulenden, Jahrtausende
alten materialistischen Scheincultur der
geschichtlichen Menschheit, mit allen
Fasern in den ewigen Naturgesetzen
wurzelt und allein dadurch befreit von
den nagenden Sorgen des widernatürlichen
»Kampfes ums Dasein« der erlösten
Menschheit die Gewähr eines sicheren
Bestandes und dadurch die nothwendige
Ruhe zu höchster Entwicklung bietet. In
»Per aspera ad astra« ist dieses Bewusst-
sein der Erlösung in die jauchzende Freude
gegossen, welche — als befreiender Schluss-
accord schon in Beethovens »Neunter«
der Menschheit verkündet — die kraft-
strotzenden Kinder über die Hindernisse
des Lebens hinweg tanzend und singend,
dem höchsten Menschheitsziele: Erkenntnis
und Entwicklung des in der Natur
lebendigen »Gottes« durch ideale Pflege
von Wissenschaft, Kunst und Religion und
deren Verkörperung im Leben entgegen-
führt.

Was hier im Idealbilde der Kunst sich
als Schattenriss einer zukünftigen Mensch-
heit spiegelt, schafft Diefenbachs Leben
zur That. Die Ideale, die er lebte, heute
nur von den wenigen Menschen seiner
nächsten Umgebung geahnt, verkörpern
in reichster Fülle eines übermenschlichen
Einzeldaseins das gewaltige Ringen des
sich seiner in schutzloser Kindheit durch
das allgemeine Beispiel verfallenen Ent-
artung bewusst werdenden reinen Mensch-
lichkeitsgefühles nach Erlösung zu jenem
»Gottmenschen« thume, das, mit »dem
Vater eins«, der Nazarener als Vorbild der
Menschheit lebte. Diefenbach ist sich
bewusst, dass die von ihm angestrebten
Menschheitsideale keineswegs »neu«,
sondern zu allen Zeiten als ihrem Wesen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 5, S. 124, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-05_n0124.html)