Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 157

Ruskin (Schölermann, Wilh.)

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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 157

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SCHÖLERMANN: RUSKIN.

des Charakters, der That und der Praxis.
Von dem Idealismus der Unerfahren-
heit, der beim ersten Ansturm in Stücke
geht, weil er mehr fühlt als will, mehr
wünscht als vertraut, unterscheidet sich
der starke wettererprobte Idealismus durch
die unlösbare Läsion von Erkenntnis
und Willen, deren Widerstandsfähigkeit
mit jedem Schlag gehärtet wird. Menschen
von dieser Art ist der Idealismus kein
Ziel, sondern Voraussetzung. In dieser
Voraussetzung liegt ihr Schicksal und das
der Mit- und Nachgebornen mit ein-
geschlossen.

Nicht was sie in jedem einzelnen Falle
erreicht oder nicht erreicht haben, macht
die Bedeutung von Männern wie Ruskin
aus, sondern der ethische Lichtquell ihrer
Persönlichkeit, der hinter jedem Satz, den
sie schreiben, jedem Wort, das sie sprechen,
hervorstrahlt, wärmt und erhellt, wohin
er trifft, nach Jahrtausenden nicht um
einen tausendstel Grad weniger, als am
ersten Tage. Sie sind die Fixsterne, um
die — mögen sie wollen oder nicht — die
»Intellectuellen«, die Verstandesmenschen,
die Nichtlichtgeber als Planeten kreisen
müssen. Für den noch kleineren und
kälteren Mond gibt sich das Erdenlicht
wohl auch gern für Sonnenlicht aus.
Aber trotzdem scheint der Mond immer
mehr abzukühlen.

Über Ruskin als Schriftsteller zu
sprechen, hat wenig Sinn, wenn die
treibendenden sittlichen Kräfte nicht dabei
eingehend nach Ursprung und Wirkung
untersucht werden. Er ist eben viel mehr
als ein Schriftsteller. Dass wir Deutsche
seinen Namen besser als seine Werke
kennen — wobei wir uns beim Nennen
seines Namens allerdings eine annähernd
richtige Vorstellung von seiner Bedeutung
machen — hat vielleicht seinen Grund
darin, dass wir mit unseren eigenen An-
gelegenheiten gerade in dem Zeitraum,
als Ruskin seine Hauptwerke schrieb,
1848 bis 1871, sehr stark »beschäftigt«
waren. Die Zeit ist bei uns erst jetzt reif
für ihn. So wenig wir ihn bisher übersetzt
haben, dürfen wir doch heute zuversicht-
lich erwarten, dass im Jahre 1900 deutsche
Ausgaben von seinen Hauptwerken zum
eisernen Bestande unserer Literatur ge-
hören.

Über den Kunstkritiker Ruskin im
engeren Sinne wüsste ich kein besseres
Charakteristikon als das zu finden, was
Oscar Wilde in seinem Essai »The critic
as Artist«(Wiener Rundschau, III. Jg. Nr. 2,
Seite 36) mit den Worten ausdrückt:

»Wer kümmert sich heute darum, ob
John Ruskins Ansichten über William
Turner »richtig« sind oder nicht? Diese
machtvolle und königliche Prosa, so ein-
dringlich und so feurig in ihrer edlen Be-
redsamkeit, so reich in ihrer musikalischen
Vielstimmigkeit, so überzeugt und sicher,
ist zum mindesten in ihrer feinen Auslese
von Wort und Klang ein ebenso grosses
Kunstwerk, wie irgend einer jener wunder-
farbigen Sonnenuntergänge, welche auf der
verwitterten Leinwand bleichen und zer-
fallen in Englands Gallerien. — Dem
Kritiker wird das Kunstwerk zu einer An-
regung für ein zweites Kunstwerk, welches
nicht nothwendigerweise eine strenge,
oberflächliche und augenfällige Überein-
stimmung mit dem zu haben braucht,
worüber er kritisirt es wird eine Ver-
wandschaft sein, nicht wie zwischen der
Natur und dem Spiegel, sondern wie
zwischen der Natur und dem Empfinden
des decorativen Künstlers.«

Ruskin besass vor allem die erste
Vorbedingung des bedeutenden Kritikers:
Begeisterungsfähigkeit. Alles, was er schrieb,
ist von einer starken Subjectivität durch-
tränkt. Die Fähigkeit und Bereitwilligkeit
zur hingebenden Bewunderung kann als
der Ausgangspunkt künstlerischen Schaf-
fenstriebes nicht nur, sondern als unent-
behrliche Voraussetzung zum kritischen
Verständnis eines Kunstwerkes hingestellt
werden. Bei Ruskin ist diese Voraus-
setzung ein Grundzug seines Wesens und
Wirkens: das Geheimnis seiner Erfolge.
Er gilt allgemein als der Prophet und
Vorkämpfer der englischen Vorrafaëlliten,
womit seine kritische Wirksamkeit aber
durchaus nicht erschöpft und umgrenzt
ist. Seine »Sieben Lampen der Bau-
kunst
« und »Steine von Venedig«
sind der Niederschlag seiner Studien-
reisen in jüngeren Jahren, eine Art kriti-
scher Bauphilosophie. Warm und begeistert
war er damals und so blieb er durchs Leben.

Sollen wir seine Schriften aufzählen?
Jede Sortimentsbuchhandlung kann bessere

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 157, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0157.html)