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Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 161

Text

GEMBERG: LIEBE.

Er beherrscht sich deshalb und sagt
mit einem Spott, der gegen seinen Willen
einen scharfen Ton annimmt:

»Ja, es mag nicht so leicht sein, als
unverstandene Frau zu leben.«

»Unverstanden? O da kennst Du mich
gar nicht, an mir ist nicht so viel zu
verstehen. Aber in dem Manne möchte
ich ein Räthsel lösen — dann könnt’ ich
ihn vielleicht lieben.«

Das hatte er nicht erwartet. Diese Er-
kenntnis ihres eigenen geistigen Stand-
punktes.

»Hältst Du Dich also nicht für ein
kleines verkanntes Genie, Minna?«

Sie wirft mit einer unendlich an-
muthigen Bewegung die schlanken, über-
zarten Arme über dem Kopf zusammen
und legt das Gesichtchen darauf.

Die dunkellockigen Haare lösen sich
ganz aus der Frisur und fallen weich über
den weissen Kaschmir ihres Hauskleides.

»Mit solchem Spotte kommst Du mir
nicht näher, Gustav. Deshalb habe ich Dir
nicht die Jugendfreundschaft gewahrt. Ich
erwarte etwas anderes von Dir —«

»Liebe?«

In hellem Zorn springt sie auf. »Ob
denn Ihr Männer weiter nichts für uns
Frauen bieten mögt als Liebe — immer
dasselbe — immer nur Liebe, die von
allen Seiten an mich herandrängt und die
ich so nicht mag, so nicht verstehe —«

Er ist ganz verblüfft.

»Ja mein Gott, was willst Du denn
eigentlich vom Manne, was erwartest Du
denn?«

»Genie.«

»Na — erlaube mal — es kann doch
nicht jeder —«

»Natürlich nicht jeder. Lieben könnt
Ihr alle, lieben wollt Ihr alle, aber es ist
immer dasselbe, und ich finde das, was
ich bis jetzt davon kenne, gerade lang-
weilig genug.«

»So — langweilig? Ja, wenn ich nur
wüsste, was Du eigentlich meinst.«

»Das will ich Dir sagen: Sieh, ich
habe in der Schule nichts gelernt, das
weiss ich und ich kann auch nicht logisch
denken.«

»Aber das ist ja gerade das Ent-
zückende an Dir. Damit bezauberst Du
alle Männer. Geist haben wir im eigenen

Geschlecht, aber diese holde, unberechen-
bar naive Kindlichkeit bei so viel Schön-
heit, wie Du sie —«

»Herrgott, nun werde nicht auch noch
fad! Das da weiss ich nämlich alles.«

»So mag ich Dich, Kleine, sag mir
nochmal, ich sei fad« — er lacht.

Aber sie sieht ihn mit den grossen
Kinderaugen sehr ernst an und sagt ganz
langsam: »Ich sehne mich nach dem
Märchenzauber neuer grosser Gedanken.
Ich möchte zu einem Manne aufblicken,
dessen geistvolle Rede mir Welten er-
schlösse, Geisteswelten, die mir so fremd
sind, so fern. — Ich möchte einen Mann
lieben, der ein Titan wäre im höchsten
Wissen, einen Fürsten aus dem Reiche
der Geister — mit einem Worte: einen
Dichter.«

Er sieht sie ganz entsetzt an und
rennt dann wild in dem niedlichen Zimmer
umher.

Ja, Kuckuck noch einmal, mit diesen
Ansprüchen kann sie nur ihn meinen, ihn,
der seines Zeichens Redacteur ist. Sie
scheint diesen Beruf für etwas Ahnliches
zu halten wie den eines Dichters.

Ganz unmöglich, ihr begreiflich zu
machen, dass man zur Abfassung eines
Leitartikels und zur Zusammenstellung
von Telegrammen keiner dichterischen
Inspiration bedarf. Märchenzauber neuer
Gedanken — ach, eine schöne Geliebte
kann doch recht unbequeme Forderungen
stellen!

Und doch erregt ihre Schönheit in
diesem Augenblick mehr wie je seine
Leidenschaft. Ihre Jugend von kaum
zwanzig Jahren, die durch ihre Mutter-
würde, durch ein gewisses freies Frauen-
thum bei aller Kindlichkeit ihre Erschei-
nung so über alle Massen anziehend, be-
strickend macht, wirkt auf alle seine Sinne.

Was gäbe er wohl darum, wenn er jetzt
so ohne weiters das Ideal vom »Märchen-
zauber neuer Gedanken« für sie zu ver-
wirklichen vermöchte? Sie ist doch zu
reizend, thatsächlich wonnig!

Ihre Augen haben sehr lange schwarze
Wimpern, die feinen Brauen setzen sich
in ein paar kleinen, netten Härchen ein-
ander gegenüber fort, so dass sie sich
schliesslich über dem süssen, drolligen
Näschen zusammenfinden. Das gibt dem

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 3, Bd. 1, Nr. 7, S. 161, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-03-01-07_n0161.html)